Süddeutsche Zeitung

Generaldebatte zum Euro:Warum Merkel Taktik gegen Leidenschaft tauscht

Die Kanzlerin hat sich schon mehrmals neu erfunden: als Reformerin, als Mutter der Nation oder als konservative Regierungschefin. Stets war die Wandlung taktisch motiviert. Bis jetzt. In der Debatte zum Haushalt ist alles anders: Merkel schlüpft in die Rolle der leidenschaftlichen Kämpferin für Europa - und geht ein hohes Risiko ein.

Stefan Braun

Angela Merkels Auftritte im Parlament folgten bislang einem festen Muster. Wann immer die Kanzlerin zur Rede ansetzte, stützte sie sich nicht nur aufs Pult, sondern auch aufs Manuskript. Hie und da ein Blick in die Runde, ansonsten las sie vor - auch mal eine ganze Stunde. Am Mittwoch aber war das anders.

Ihr Manuskript schrumpfte zum Stichwortgeber, Merkel sprach frei aus, was sie dachte. Bei anderen mag das unwichtig sein, bei Merkel signalisiert es einen ganz neuen Abschnitt. Die Zukunft des Euro wird für sie alles entscheiden. Deshalb verbindet sie sich mit seinem Schicksal: Scheitert der Euro, scheitert Europa - und damit auch Angela Merkel. So was kann man nicht vom Blatt ablesen. Man muss es mit Leidenschaft aussprechen.

Sicher, diese Kanzlerin hat sich schon mehrmals neu erfunden. Sie hat sich wahlweise als Reformerin, als Mutter der Nation oder als konservative Regierungschefin gegeben. Sie hat damit mal auf Kritik in den eigenen Reihen reagiert, mal auf Wahlergebnisse. Jedes Mal aber war es eine taktisch motivierte Position - und ist auch als solche entlarvt worden. Diesmal ist das anders. Verlässt sie den jetzt eingeschlagenen Weg, wird das keine Wandlung sein. Merkel kann nicht mehr nach links oder rechts. Von hier aus kann sie nur noch zurück, also aufgeben.

Für die Kanzlerin ist das ein hohes Risiko und zugleich die letzte Chance. Die Debatte über Merkels Ruf nach mehr Europa kann für den Frieden in der Koalition noch sehr gefährlich werden. Auf der anderen Seite wissen Freunde wie Feinde nun, was Merkel erreichen möchte. Für Merkel ist das ein Weg zu sich selbst; für alle anderen in der Koalition ist es eine neue Lage: Sie können nicht mehr nörgeln, sie müssen ja oder nein sagen.

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Quelle:
SZ vom 08.09.2011/beu/gba
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