Süddeutsche Zeitung

Gemeinwesen:Talent zum Mitmischen

Ein Start-up will ungewöhnliche Wege in die Politik eröffnen: Es finanziert junge Menschen, die gesellschaftliche Ziele verwirklichen wollen, vor dem etablierten Parteiensystem aber zurückschrecken.

Von Boris Herrmann, Berlin

Es gab mal eine kleine, aufgeregte Debatte um ein Zitat von Christian Lindner. Der FDP-Chef hatte in einem Interview den Eindruck erweckt, er sei der Meinung, dass man Politik doch besser den Profis überlassen solle. Im konkreten Fall ging es um die klimapolitischen Forderungen von Schülern, die freitags demonstrierten, statt in die Schule zu gehen. Lindner sagte hinterher, er sei missverstanden worden. Damit konnte er das heraufziehende Shitstürmchen aus den Reihen der anderen Parteien aber nicht mehr abwenden.

Spricht man mit Benjamin Gehne, 31, über seine Erfahrungen in der Politik, entsteht schnell die Frage, ob die Erregung über Lindner nicht etwas Wohlfeiles hatte. Aus Sicht von Gehne geht es hier nämlich nicht um ein verunglücktes Zitat, sondern um ein strukturelles Problem, das alle Parteien betrifft. "Bürger, nerv nicht, du kannst alle vier Jahre deine Stimme abgeben, aber lass ansonsten bitte die Profis ihre Arbeit machen", das sei eine Haltung, die er sehr stark spüre, sagt Gehne.

Ein paar Jahre hat er für die Linkspartei im Landtag von Sachsen-Anhalt gearbeitet. Was ihn dabei stets störte, war das, was er "eine gewisse Raumschiffmentalität" nennt. Auf den Fraktionsfluren aller Parteien sei meist abstrakt über "die Menschen da draußen" gesprochen worden und viel zu selten darüber, wie man die Bürger einbinden und zum Mitmachen aktivieren könne. Auch deshalb hatte er den Politikbetrieb frustriert verlassen. Jetzt steigt er wieder ein. Und zwar mit der Mission: Politik ist für alle da.

Vor einigen Wochen gründete Gehne in Magdeburg die überparteiliche Bürgerplattform "Gemeinsam Handeln". Es geht ihm darum, Menschen für ihre berechtigten Anliegen so zu mobilisieren, dass sie von jenen gehört werden, die sich als Politikprofis verstehen. Mit seinem ersten Projekt will er die Lobby der Fahrradfahrer in Magdeburg stärken.

Gehne schläft wenig im Moment, weil er hauptberuflich eine Bildungseinrichtung mit 30 Angestellten leitet und nach Feierabend für die Radkultur streitet. Aber er könnte sich vorstellen, sich Vollzeit auf sein bürgerschaftliches Engagement zu konzentrieren - wenn sich davon leben ließe. Völlig utopisch ist das nicht, denn genau nach Leuten wie ihm hält Caroline Weimann Ausschau.

Zum Start gibt es 50 000 Euro

Weimann, 35, hat das Start-up Join Politics gegründet, das an diesem Montag offiziell beginnt. Sie sagt: "Junge Leute haben wieder mehr Lust, sich politisch zu engagieren. Aber sie fremdeln mit den etablierten Strukturen". Weimann und ihr Team fahnden deshalb gezielt nach politischen Talenten, die sich für die Demokratie einsetzen wollen, aber wenig Interesse an der klassischen Ochsentour durch die Partei haben.

Diesen Menschen bietet Join Politics zunächst ein Startkapital von 50 000 Euro für ihre "ungewöhnlichen Wege" in die Politik. Davon darf explizit auch der Lebensunterhalt bestritten werden. Besonders erfolgreiche Talente können sich um eine Anschlussfinanzierung von bis zu 150 000 Euro bewerben. Im Moment ist das Projekt noch in der Testphase. Aber einige Test-Talente haben bereits eine Anschubfinanzierung erhalten, darunter auch Benjamin Gehne in Magdeburg.

Join Politics ist nur eines von mehreren Demokratieprojekten, die sich neuerdings um mehr Quereinsteiger in der Politik bemühen. Dazu gehört etwa die digitale Wahlinitiative "Brand New Bundestag". Sie unterstützt (ohne Blick auf ein etwaiges Parteibuch) einen Kreis von Bundestagskandidaten, die von einer Jury gecastet wurden. In dem Programm "Work 4 Germany" arbeiten junge Menschen aus der freien Wirtschaft derzeit in verschiedenen Bundesministerien mit. Aber auch Leute wie Oliver Ruhnert, der Manager des Bundesligisten Union Berlin, machen sich Gedanken über das Nachwuchsproblem der Politik. Im Interview mit der SZ brachte er neulich die Idee eines Scouting-Systems für Parteien nach dem Vorbild des Fußballs ins Spiel.

Private Spender haben 2,55 Millionen Euro gegeben

Caroline Weimann will vor allem Ideen aus der Start-up-Welt in die Politik übertragen. Vor dem Start der bundesweiten Bewerbungsphase an diesem Montag hat Join Politics bereits eine Fördersumme von 2,55 Millionen Euro über private Spenden eingesammelt. In der ersten Projektrunde sollen nun bis zu zehn Bewerberinnen und Bewerber ausgewählt werden, die innovative politische Ansätze entwickeln und auch bereit sind, sie konkret umzusetzen. Das kann beispielsweise in eine Kandidatur für ein Bürgermeisteramt oder ein Bundestagsmandat münden oder in eine politische Kampagne mit dem Ziel, eine Gesetzesänderung zu erwirken.

In der Testphase unterstützt Join Politics neben der Magdeburger Bürgerplattform auch ein gemeinsames Projekt von Susanne Zels (CDU) und Sophie Pornschlegel. Die beiden Frauen wollen führende EU-Politiker davon überzeugen, eine "Europäische Agentur für politische Bildung" zu gründen. Zels, 31, hat die Förderung von Join Politics zum Anlass genommen, ihren Job in der freien Wirtschaft für ihr politisches Engagement aufzugeben. Sie sagt: "Das war der Stupser, der noch gefehlt hat."

Benjamin Gehne hat bereits in den ersten Wochen seiner Radkultur-Initiative gespürt, dass er etwas bewegen kann in Magdeburg. Nämlich daran, dass die Profis im Rathaus von seiner Bürgerbewegung zunehmend genervt wirken. Neulich hörte er den Satz: "Mensch, jetzt hat dieser Gehne auch noch Geld."

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