Gemeindeschwestern:Mit dem Herzen sehen

In der DDR gehörte sie zum Alltag, jetzt erfährt das Konzept der Gemeindeschwester ein Revival.

Von Michaela Schwinn

Da lag der Mann nun, blutverschmiert und mit blauem Auge. Ihr erster Einsatz. Eigentlich hatte sich Regina Müller gerade hinlegen wollen. Sie hatte sich schon ihr Nachthemd übergestreift, als kurz vor Mitternacht das Telefon klingelte. "Ja, ja, verstehe", sagte sie in den Hörer, "ich komme sofort."

Nun stand sie über dem Mann, das Blut klebte in den langen Haaren, er stöhnte irgendetwas in ihre Richtung, doch die dumpfen Bässe in der Kneipe schluckten seine Worte. Aber Regina Müller verstand auch so: zwei Männer, eine Frau und zu viel Alkohol. Sie zog den stöhnenden jungen Mann in die Höhe, tupfte seine Stirn mit Desinfektionslösung ab und klebte drei Pflaster auf die Wunde. "Jetzt ist Ruhe", zischte Müller die beiden Männer an, bevor sie sich durch die schwitzende, tanzende Menge Richtung Ausgang schob.

So ging es los, wie Regina Müller erzählt. Als Gemeindeschwester musste sie schlagfertig sein, ohne Furcht. Ein Beruf, der in der DDR weit verbreitet war und der den Frauen, die ihn ausübten, viel abverlangte.

Damals, als Schwester Regina - wie sie alle im Ort nannten - vom Kulturhaus in Bermsgrün im sächsischen Erzgebirge nach Hause ging. Als sie durch die dunklen Dorfgassen lief und genau wusste, wer hinter welchem Fenster schlief, da ahnte sie noch nicht, dass ihre Zeit als Gemeindeschwester, "die beste ihres Lebens" wie sie es heute nennt, ein paar Jahre später abrupt enden würde.

Denn als in Berlin 1989 die Grenzen geöffnet wurden, als sich Menschen aus Ost und West weinend in die Arme fielen, als so viel gewonnen wurde, da ging manches verloren: auch der Beruf der Gemeindeschwester. 5500 von ihnen hatte es kurz vor dem Mauerfall in der DDR gegeben. Die Frauen, die in diesem Beruf arbeiteten, meist ehemalige Krankenschwestern, waren häufig im Ort aufgewachsen, sie kannten jeden Hof, jedes Haus, jede Familie. Sie gaben Kindern die erste Spritze und hielten alten Menschen im Sterben die Hand. Sie kamen zum Schlichten, wenn es Streit in der Familie gab, sie brachten Patienten mit abgetrennten Fingern in die Klinik, und wenn wirklich Not in der LPG war, dann halfen sie auch mal einem Kälbchen auf die Welt.

DDR-Kindergarten, Gesundheitsvorsorge / Foto 1986

Untersuchung durch eine Gemeindeschwester im Kindergarten in Pinnow (Uckermark, 1986). |

(Foto: Picture alliance)

Mit der Wiedervereinigung schieden sie dann plötzlich aus dieser Gemeinschaft aus. Ihre Stationen wurden für immer geschlossen oder anderweitig genutzt, die Schwestern durch Sozialstationen oder Pflegedienste ersetzt. Das was die Frauen geleistet hatten, war auf einmal nicht mehr gewollt.

Regina Müller, die heute 68 Jahre alt ist, drei Enkelkinder hat und noch immer in Bermsgrün lebt, hält es für eine Ironie der Geschichte, dass die Gemeindeschwestern jetzt, nur ein paar Jahrzehnte später, wieder zurückkehren. Denn einige Bundesländer haben das alte Konzept neu entdeckt: In Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg und Rheinland-Pfalz gibt es Modellprojekte. Sie heißen "Agnes" - nach der DDR-Kultserie "Schwester Agnes" -, "Gemeindeschwester Plus" oder "Mobile Praxisassistentin". Auch wenn die Projekte alle ein wenig unterschiedlich funktionieren, so laufen sie doch auf dasselbe hinaus: Die Frauen sollen Ärztinnen und Ärzte entlasten. Die neuen "Gemeindeschwestern" koordinieren Termine mit Fachmedizinern, machen Hausbesuche und messen den Blutdruck.

Auch sie sind ein Bindeglied zwischen Patient und Arzt, ähnlich wie die Schwestern früher - allerdings gibt es große Unterschiede zu den Gemeindeschwestern in der DDR. "Wir waren oft völlig auf uns alleine gestellt", sagt Gabriele Wolf, "was ich da alles erlebt habe!" Drei Jahre war Gabriele Wolf Gemeindeschwester in Bad Elster, einem Kurort im Vogtland. Im Winter, wenn es draußen bitterkalt war und die ersten Schneeflocken vom Himmel fielen, zog Wolf frühmorgens los, zu denjenigen, die nicht mehr für sich selber sorgen konnten. Sie kehrte die Asche aus den Öfen, holte Kohlen, heizte ein, stellte Wasser auf und räumte den Schnee von der Einfahrt. Und wenn auch in der letzten Wohnung das Feuer loderte, fing sie wieder bei der ersten an: Dann wusch sie die Patienten mit dem warmen Wasser, zog sie wieder an, kochte ihnen Tee. Und an Weihnachten, da brachte sie denen ein kleines Päckchen, die sonst niemanden hatten.

Sie wusch die Patienten, zog sie an, kochte Tee und brachte Weihnachten ein Päckchen

Zwar hielten die Schwestern oft Rücksprache mit dem Arzt oder der Ärztin im Ort, aber im Alltag, wenn es schnell gehen musste, waren oft sie es, die Entscheidungen trafen. "Die Gemeindeschwestern hatten die gleiche Autorität wie der Bürgermeister, Schuldirektor oder Pastor", sagt Marion Heinrich. Die Berliner Journalistin recherchierte viele Jahre zum Thema, machte sich auf die Suche nach den Frauen und schrieb deren Geschichten im Buch "Gemeindeschwestern erzählen" auf: "Es waren unglaubliche Frauen." Oft waren sie auch die Ersten, die gerufen wurden, wenn etwas Schlimmes passiert war.

So wie an diesem einen Nachmittag, es muss im Frühsommer 1986 oder 1987 gewesen sein. Schwester Regina war gerade auf dem Weg zu einem Patienten, da kam ein Gemeindearbeiter auf sie zugelaufen: "Notfall", schrie er, "schnell!" Auf dem Erdbeerfeld, ganz in der Nähe, war ein Segelflieger vom Himmel gestürzt - mitten auf zwei pflückende Frauen. Eine der beiden konnte sich kaum mehr bewegen, ihr Arm war schwer verletzt. Also holte die Schwester aufblasbare Schienen und Verbandszeug, sie versuchte ihr Möglichstes. Und doch starb die Frau später an ihren Verletzungen.

Gemeindeschwestern: Das Motorrad gehörte auf dem Land zur Berufsausstattung.

Das Motorrad gehörte auf dem Land zur Berufsausstattung.

(Foto: Helga Erhardt)

Damals sprach der ganze Ort von dem Unfall, es wurde getuschelt und getratscht: Hatte der Pilot versucht, in den Westen zu fliegen?

Es gab sie, die großen Schicksalsschläge wie an diesem Nachmittag im Spätsommer. Viel öfter aber hatten es die Gemeindeschwestern mit den alltäglichen Sorgen und Problemen der Bewohner zu tun. Wenn Schwester Regina zum Beispiel den "alten Paul" besuchte, einen verwitweten, zuckerkranken Mann, dann setzte sie sich auf sein abgewetztes Sofa im Wohnzimmer und trank ein, zwei oder drei Gläser Pepsinwein mit ihm, ein likörhaltiges altes Hausmittel. Sie erzählte, was es Neues im Dorf gab, er schenkte immer wieder ein. "Ich nahm mir die Zeit", sagt Regina Müller, "er hatte ja sonst keinen."

Zeit, Nähe, Vertrauen, das machte ihre Arbeit aus. Aber es war nicht alles besser damals, das ist den beiden Frauen wichtig. "Bei aller Schwärmerei darf man das andere nicht vergessen", sagt Gabriele Wolf. Oft fehlte es am Allernötigsten: an Medikamenten und an Verbandsmaterial, an Windeln und Einweghandschuhen. Häufig mussten sich die Schwestern dann selbst etwas einfallen lassen: Während es in der DDR noch üblich war, das Spritzenbesteck einzusammeln und auszukochen, wusste Regina Müller, wie sie an Einwegspritzen herankam.

Jedes Jahr kam ein Paar aus Bad Düben, eine Krankenschwester und ein Politoffizier, und verbrachte den Urlaub bei Regina Müllers Eltern. Bei der nationalen Volksarmee gab es Einwegspritzen und später auch Wegwerfkanülen. Irgendwann kamen die beiden Frauen ins Gespräch und sie machten einen Deal: Alle Spritzen kurz vor dem Verfallsdatum bekam Regina Müller, dafür bekam die Krankenschwester den begehrten Urlaubsplatz. So einfach war das.

Auch für andere Dinge setzen sich die Schwestern ein. So kämpfte Müller dafür, dass auch in abgelegenen Ortsteilen Telefonanschlüsse geschaffen wurden, etwa im Jägerhaus draußen im Wald oder in der Hansenmühle am anderen Ende des Dorfes. "Da gab es nur wenige Häuser", sagt Müller: "Aber ehe ich von dort ein Signal bekam, konnte es mit den Kranken schon zu Ende sein."

Gemeindeschwestern: Regina Müller.

Regina Müller.

(Foto: privat)

Immer erreichbar sein, das gehörte für die Schwestern dazu. Und das stellte nicht selten ihr Familienleben auf die Probe. Als Gabriele Wolf als Gemeindeschwester in Bad Elster anfing, war sie 33 Jahre alt, geschieden und alleinerziehende Mutter von zwei Kindern. Und obwohl ihr die Familie immer das Wichtigste war, und sie versuchte, jede freie Minuten mit ihren Töchtern zu verbringen, war dies nicht immer einfach.

Noch heute erinnert sich Wolf daran, dass es eines Mittags an der Türe klingelte. Da sie gerade im Garten die Wäsche aufhängte, öffneten ihre Mädchen. Später fand sie einen Zettel an der Wohnungstüre: "Liebe Patienten, bitte richten Sie sich nach den Arbeitszeiten von Schwester Gabi, wir wollen unsere Mutti auch mal für uns haben. Die Kinder."

So wie die Frauen damals haben auch die neuen Gemeindeschwestern eine besondere Stellung im Gesundheitssystem. Und doch sind sie nicht unumstritten. So manche Gemeinde überlegt, ob sie das Modell einführen soll oder lieber nicht. Vielleicht weil man die Schwestern als überflüssig oder zu wenig kompetent erachtet oder weil Ärzte um ihren Status fürchten.

Dabei würden sie heute dringender gebraucht denn je. Auf dem Land schließt eine Hausarztpraxis nach der anderen, weil junge Mediziner die Selbständigkeit scheuen, nicht bereit sind, bis spät nachts in der Praxis zu sitzen und fast rund um die Uhr ansprechbar zu sein. Alte Menschen sind alleine, weil Kinder und Enkel immer häufiger weit entfernt von ihnen wohnen. Pflegedienste und Sozialstationen sind überlastet, weil Pflegekräfte fehlen. Zurück bleiben alte, kranke und einsame Menschen, die genau diese Hilfe der Schwestern brauchen könnten.

Damals, als der Beruf der Gemeindeschwester einfach abgeschafft wurde, brach für Regina Müller eine Welt zusammen. Das was sie jahrelang gemacht hatte, die vielen Wunden, die sie verarztet hatte, die Sorgen, die sie sich angehört hatte, ihr Einsatz, ihre Fürsorge - das alles schien plötzlich keinen Wert mehr zu haben. Also stand sie da, erst 40 Jahre alt, und wusste nicht weiter. Als ihre frühere Chefin, die Dorfärztin, sich niederließ, stellte sie Regina Müller als Arzthelferin ein. Ein Zustand, der für die Schwester nur schwer erträglich war: Wie gerne hätte sie sich mit den Menschen im Wartezimmer über ihre Sorgen unterhalten oder sie behandelt. Aber das war nun nicht mehr ihre Aufgabe. Sie fühlte sich unnütz und wertlos. Sie kündigte. Schluss, aus, vorbei.

Gemeindeschwestern: Gabriele Wolf, Gemeindeschwester bis zur Wende, sagt im Rückblick: „Wir waren oft völlig auf uns alleine gestellt. Was ich da alles erlebt habe!"

Gabriele Wolf, Gemeindeschwester bis zur Wende, sagt im Rückblick: „Wir waren oft völlig auf uns alleine gestellt. Was ich da alles erlebt habe!"

(Foto: privat)

Aber Müller hatte Glück und fand eine Anstellung im Jugendamt, nicht weit von Bermsgrün. Sie lernte Paragrafen und Verordnungen und konnte nun das einbringen, was sie die vergangenen Jahre gelernt hatte: Geduld und Vertrauen. Und das Wichtigste: Jeden Menschen, der ihr gegenübersaß, ernst zu nehmen, ihn "mit dem Herzen zu sehen", wie sie es bezeichnet. So wie ihr ging es vielen Gemeinde- schwestern: Nachdem ihre Stationen geschlossen wurden, mussten sie sich umorientieren: Sie arbeiteten nun als Arzthelferinnen, eröffneten Sozialstationen, Pflegedienste.

"Sie hatten Angst, dass ich weggehe. Das stand nicht zur Debatte. Ich bleibe."

Als bekannt wurde, dass Gabriele Wolf als Gemeindeschwester aufhören würde, klopften immer wieder Patienten an ihre Haustüre oder sprachen sie auf der Straße an. "Sie hatten Angst, dass ich weggehe", sagt Wolf. Aber sie sagte: "Das steht gar nicht zur Debatte. Ich bleibe." Also ging sie zum Roten Kreuz und baute eine Sozialstation auf. Damals, sagt sie, sei die Versorgung der alten und kranken Menschen erst einmal besser geworden. Aber als 1995 die Pflegeversicherung und die Pflegestufen eingeführt wurden, mussten die Mitarbeiter schneller arbeiten, sie mussten mehr aufschreiben und dokumentieren - und konnten weniger reden, trösten, erklären. Die Angehörigen und die Patienten forderten immer mehr und wollten weniger zahlen, sie wurden unzufrieden und schimpften: "Die Dankbarkeit, die mir die Leute zu DDR-Zeiten entgegengebracht haben, die ist schnell verloren gegangen."

Nur einmal durfte Gabriele Wolf noch spüren, wie sie damals als Schwester Gabi gebraucht und geschätzt wurde. Als sie für die Große Elster vorgeschlagen wurde, einen Preis, der alle Bürger in Bad Elster ehrt, die sich besonders für die Menschen im Ort einsetzen. Als dann bei der Preisverleihung eine 93-jährige Frau auf Gabriele Wolf zukam, ihr fest die Hand drückte und ihr von Herzen zu dieser Ehrung gratulierte. "Sie hatte die Gemeindeschwestern nicht vergessen", sagt Wolf: "So verkehrt kann das alles nicht gewesen sein."

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