Serie "Wir sind Europa":Warum eine Krankenpflegerin zur Ikone der Gelbwesten wurde

France Protests

Ingrid Levavasseur, eine der führenden Persönlichkeiten der Gelbwesten-Proteste in Frankreich

(Foto: AP; Illustration Jessy Asmus)

Die Gelbwesten-Proteste waren die bisher heftigste Erschütterung in Macrons Amtszeit. Ingrid Levavasseur war vorne mit dabei. Seither will sie nur noch eines: für ihre Überzeugungen kämpfen.

Reportage von Nadia Pantel, Pont de l’Arche

Im Zentrum von Pont de l'Arche, 110 Kilometer nordwestlich von Paris, wartet die Hälfte der Geschäfte hinter verklebten Fenstern auf neue Mieter. Das Schicksal einer typischen französischen Kleinstadt - riesige Supermärkte sind wie Ufos an der Zufahrtsstraße gelandet, und Metzger und Gemüseladen werden von Notwendigkeiten zu Relikten. Doch die Brasserie L'Estaminet hält die Stellung. Hinter dem Panoramafenster sitzt Ingrid Levavasseur und sucht in ihrem Kalender Platz für neue Termine. Vor der Scheibe läuft eine alte Frau vorbei, sieht Levavasseur, bleibt stehen und winkt begeistert. Levavasseur wird rot, strahlt und winkt zurück. Vor einem halben Jahr war die 32-Jährige nur eine von 5000 hier im Ort, heute kommen die Menschen zu ihr, um sich zu bedanken, sie zu ermutigen oder um ihr von ihren Sorgen zu erzählen.

"Eigentlich mache ich, was ich immer gemacht habe", sagt Levavasseur. "Ich höre zu und ich sage meine Meinung." Neu ist, dass sie das nun im Fernsehen tut, beim Bürgermeister, ja sogar bei Ministern.

Wir sind Europa - Andere Europäer, andere Probleme: Sechs Reisen zu EU-Bürgern vor der Europawahl 2019. Hier geht es zu den bereits erschienenen Beiträgen der Serie.

Für Frankreichs Präsidenten Emmanuel Macron ist die Bewegung der Gilets jaunes die bislang heftigste Erschütterung seiner Amtszeit. Auch wenn Macron versucht, das Wort Krise durch das Wort Chance zu ersetzen. Doch für Menschen wie Levavasseur waren die gelben Warnwesten keine Bedrohung, sondern eine Befreiung. "Ich schäme mich nicht mehr für das, was ich bin", sagt sie.

Als sie im Herbst 2018 von der geplanten Ökosteuer auf Benzin erfuhr, rechnete sie sich aus, dass sie dadurch monatlich 20 Euro weniger auf dem Konto hätte. Das bedeutet: Schwimmbadbesuche mit den Kindern oder Essen gehen mit Freunden muss sie nicht erst ab Monatsende absagen, sondern schon zehn Tage vorher. Levavasseur verdient 1200 Euro netto.

France Protests

Ingrid Levavasseur im Februar bei Protesten in Paris.

(Foto: picture alliance/AP Images)

Noch heute wirkt sie aufgeregt, wenn sie vom 17. November 2018 erzählt, dem Tag, als sie mit ihrer Mutter, ihren Geschwistern, ihren Bekannten, Freunden und Nachbarn die Autobahn blockierte, auf der sie normalerweise jeden Tag zur Arbeit fahren. Levavasseur hatte weder gewusst, dass sie an diesem Tag ihre Neonweste aus ihrem Handschuhfach holen würden, um von einzelnen Zornigen zu einer Bewegung zu werden. Noch hatte sie geahnt, dass sie eine Woche später nach Paris fahren würde, auf die erste Demonstration ihres Lebens.

In den folgenden Wochen und Monaten haben die Franzosen Levavasseur häufig gesehen, in Fernsehdebatten und in Interviews. Man erkennt sie schnell wieder. Zum einen an ihren langen, roten Haaren, zum anderen daran, dass sie meist ruhig und bedacht bleibt, wenn die anderen beginnen zu pöbeln.

Diese Zeit, in der die Medien Levavasseur "entdeckten", wie sie es selber nennt, war für sie auch eine Zeit der Politisierung im Schnellverfahren. Sie war die erste der Gelbwesten, die versuchte, die Bewegung von der Straße an die Urne zu führen. Im Januar gründete sie eine Liste für die Europawahlen, doch schon im März endete das Experiment im Streit. Levavasseur habe sich wegen der wüsten Beschimpfungen in den sozialen Netzwerken zurückgezogen, schreiben die Zeitungen. Sie selber sagt, die Liste sei gescheitert, weil sie sich als Anfängerin mit den falschen Leuten zusammengetan habe. Mit solchen, die sich hinter ihrem Rücken mit Italiens Vorzeigerechtem Matteo Salvini verbünden wollten.

Wenn man mit Levavasseur spricht, dann spürt man nicht nur, welche politische Energie die Gelbwestenbewegung freigesetzt hat. Man spürt auch, wie verloren sich viele zwischen den bestehenden Parteien fühlen. Kann sie sich nicht einfach bei einer der bestehenden Gruppierungen engagieren? Wie wäre es mit der France Insoumise, einer radikal linken Partei, die das Geld zu Gunsten der Armen umverteilen will? "Ich mag einige von ihren Ideen, aber sie kommen mir vor wie eine Sekte. Entweder man gehört dazu, oder man ist für sie ein Niemand." Und die rechtsextreme Marine Le Pen, die neuerdings auch sozialistische Ideen vertritt? "Deren Menschenbild macht mir Angst. Wie kann ich jemandem vertrauen, der über Ausländer spricht, als seien sie Ungeziefer." Dann vielleicht doch Macron mit seiner République en Marche, immerhin versprechen die doch, den Bürgern wieder zuzuhören? "Diese Bürgernähe ist bei Macron doch nur ein Slogan, am Ende hat er auch nur seinen Freunden Posten verschafft."

Ein Anruf bei Levavasseur am Freitagmorgen, einen Tag nachdem Macron in einer Pressekonferenz verkündete, welche Lehren er aus den Protesten der Gelbwesten gezogen habe und aus dem anschließenden Grand débat, der präsidialen Volksbefragung. "Haben Sie sich den Auftritt angeschaut?" "Natürlich! Und ich bin total enttäuscht." "Sie haben also erwartet, dass Macron wirklich etwas verändert?" "Ich habe gehofft, dass er wenigstens ein bisschen zugehört hat." Levavasseurs Hauptsorgen sind ihr Kontostand und das Gefühl, dass politische Entscheidungen über ihren Kopf hinweg gefällt werden. Sie wünscht sich eine geringere Mehrwertsteuer auf Grundnahrungsmittel und Volksbegehren auf lokaler Ebene. Keinen Präsidenten, der wie Macron sagt: Meine Reformen werden noch erfolgreicher, wenn wir sie noch schneller durchführen.

Aus ganz Europa melden sich Unterstützer

Ist die rothaarige Frau eine typische Vertreterin der Gelbwesten? Wenn man sich anschaut, wer auf Facebook am erfolgreichsten die Bewegung mobilisiert, muss man die Frage mit Nein beantworten. Männer wie Eric Drouet und Maxime Nicolle wollen zwar nicht Anführer genannt werden, doch sie geben sehr bewusst eine Richtung vor. Politiker seien das Letzte, die Medien auch, Macron müsse weg, und wer ein Geschäft oder ein Auto zertrümmert, sei letztlich von der Ungerechtigkeit der Gesellschaft dazu gezwungen worden.

Levavasseur sieht das meiste davon anders. Als Mitte März während einer Gelbwesten-Demo in Paris ein Wohnhaus angezündet wurde, entschied sie, sich nicht länger Gilet jaune zu nennen. Doch wenn Levavasseur von ihrem Leben erzählt, dann findet man dort genau die Muster wieder, die dafür gesorgt haben, dass die Menschen in den gelben Westen einander nicht nur an der Farbe ihrer Warnkleidung erkannt haben, sondern auch in ihren Sorgen und Nöten.

Levavasseur ist das zweitälteste von vier Geschwistern, ihre Mutter arbeitete als Putzfrau, der Vater trank. Levavasseur kennt nicht den Luxus einer langen, behüteten Kindheit. Mit 15 Jahren verließ sie die Schule, um schnellstmöglich eigenes Geld zu verdienen. Mit 18 Jahren wurde sie zum ersten Mal Mutter, fünf Jahre später kam das zweite Kind. Als das neue Baby neun Monate alt war, verließ sie den Vater ihrer Kinder, den Mann, den sie kannte, seit sie ein kleines Mädchen ist. Er habe in ihr nur noch eine Hausfrau gesehen, nicht mehr einen Menschen, der lernen will, sich ausprobieren, sagt sie heute.

Mit Anfang 20 beginnt Levavasseur als Krankenpflegerin zu arbeiten. "Wenn man zu den Alten und Kranken nach Hause geht, sieht man, wie viele von ihnen auf einer Matratze auf dem Fußboden schlafen, wie einsam sie sind." Sie sagt, dass sie gespürt hat, dass etwas grundsätzlich falsch läuft, doch über Politik habe sie nie gesprochen.

Heute will Levavasseur nicht mehr nur Menschen helfen, wie in ihrem Pflegeberuf, sie will für sie kämpfen. Ihre Liste für die Europawahl war nur der erste Versuch, ihrer neu gefundenen Kraft eine politische Richtung zu geben. Inzwischen hat sie einen Verein für alleinerziehende Mütter gegründet, für die Kommunalwahlen 2020 kann sie sich vorstellen, erneut eine Kandidatur zu wagen.

Levavasseur hat eine politische Haltung entwickelt, die radikale Züge trägt. Jeder fordert heute, man müsse "auf die Bürger hören". Doch für sie ist das kein Nebenaspekt einer Ideologie, sondern ihre zentrale Idee. Sie hat keine Bücher über linke, rechte, konservative oder liberale Ideen gelesen und will es auch nicht. Wenn sie von etwas überzeugen will, dann ist ihr stärkstes Argument: "Das ist doch logisch." Sie findet es logisch, in Schulen zu investieren statt in einen neuen Kreisverkehr. Sie findet es logisch, dass auch ärmere Menschen ein Grundrecht darauf haben, manchmal essen zu gehen und sich zu amüsieren. Sie findet es logisch, dass Männer und Frauen gleich behandelt werden müssen und will sich deshalb nicht unbedingt Feministin nennen lassen.

Wie genau diese Politik ihrer Logik aussehen soll, weiß sie noch nicht. Sie sagt Sätze, die nach genau dem klingen, was Emmanuel Macron den Franzosen vor zwei Jahren als Präsidentschaftskandidat versprochen hat: "Wir brauchen eine neue Bewegung aus dem Volk heraus." Der große Unterschied besteht nur darin, dass Levavasseur an ganz andere Leute denkt als der Präsident, wenn sie Volk sagt. Sie denkt an diejenigen, die sie kennt: Handwerker, Verkäuferinnen, Selbstständige, die sich auf Mini-Lohn durchs Jahr hangeln, Alleinerziehende, Arbeitslose.

Am 26. Mai, dem Tag der Europawahl, wird Levavasseur 33 Jahre alt. "Das muss doch ein Zeichen sein", sagt sie. Wen sie wählen wird, weiß sie noch nicht. Sie weiß nur, dass Europa für sie von einem Reiseziel zu einer Möglichkeit geworden ist, Unterstützer zu finden. Früher hat sie sich unter Europa Nachbarländer vorgestellt, die sie irgendwann mal besuchen möchte. Seit sie öffentlich fordert, dass es nicht nur Mindest-, sondern auch Maximallöhne geben sollte, seit sie davon erzählt, dass in Frankreich Menschen arm bleiben, obwohl sie arbeiten, melden sich bei ihr Menschen aus ganz Europa, die ihre Ideen teilen.

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