Süddeutsche Zeitung

"Gelbwesten"-Bewegung in Frankreich: "Die Politik nimmt doch nur Gewalt richtig ernst"

Frankreich erlebt den vierten Samstag mit Großdemonstrationen der Gilet jaunes. Die Themen der Gelbwesten sind nach wie vor: Geld und Not. Zum ersten Mal wirkte es so, als könne Präsident Macron scheitern.

Reportage von Nadia Pantel , Paris

Je näher dieser Samstag rückte, desto mehr hatte man in Paris das Gefühl, eine feindliche Übernahme der Stadt stehe bevor. 35 Metro-Stationen gesperrt, 15 Buslinien ausgesetzt, Louvre, Eiffelturm, Galéries Lafayette geschlossen und in einem Radius von zwei Kilometern rund um den Élysée-Palast vernagelten die Luxusboutiquen ihre Schaufenster.

Am Morgen der angekündigten Apokalypse sieht es dann zunächst eher aus, als feiere die Stadt ein autofreies Wochenende. Es ist so still wie nie. Doch die einzelnen Grüppchen von Menschen in gelben Warnwesten erinnern daran, dass es heute um etwas anderes geht. Frankreich erlebt den vierten Samstag von Großdemonstrationen der Gilets jaunes, der Bewegung der sogenannten Gelbwesten.

"Die wollen, dass wir zurück aufs Land fahren und unsere Fresse halten." "Genau. Arbeiten, Steuern zahlen und still sein." Zwei Freunde, die aus Orléans angereist sind, um zu demonstrieren, müssen vor den Tuilerien schimpfend ihre Schwimmbrillen abgeben. Sie haben sie heute morgen in den Rucksack gepackt, um sich vor Tränengas zu schützen. "Wenn Sie sich schützen wollen, dann bleiben Sie zu Hause", sagt der Polizist, der ihre Taschen durchsucht.

Bis zum Triumphbogen, einem der Zentren des Protests, läuft man von hier aus noch gute 40 Minuten, doch schon jetzt beginnen die Personenkontrollen. Bis zum Nachmittag werden in Paris bis zu 651 Demonstranten vorläufig festgenommen. Weil in ihren Rucksäcken Gegenstände gefunden werden, die den Beamten gefährlich erscheinen.

8000 Polizisten sollen in der Hauptstadt dafür sorgen, dass sich die Szenen des vergangenen Wochenendes nicht wiederholen. Demonstranten in gelben Westen hatten die Ausstellung im Triumphbogen zerstört, ganze Straßenzüge verwüstet, Autos, Bankfilialen und Wohnhäuser angezündet und Geschäfte geplündert. Ein paar Stunden lang hatte es gewirkt, als habe die Polizei jegliche Kontrolle über die Situation verloren. Man könnte sagen, dass der Krawall des ersten Dezember der schwarze Samstag der Gelbwesten war. Man könnte jedoch auch behaupten, es war ihr erster Erfolg. Als Reaktion auf die Gewalt nahm die Regierung die umstrittene Ökosteuer auf Benzin und Diesel zurück, die die Protestwelle ins Rollen gebracht hatte.

"Ich habe den Eindruck, dass die Politik nur Gewalt richtig ernst nimmt"

Alain, der nur seinen Vornamen sagen will, steht in einer kleinen Seitenstraße, 500 Meter vom Triumphbogen entfernt, und verteilt Atemschutzmasken. In der Ferne hört man die Explosionen der Tränengasgranaten. Mit einer friedlichen Demonstration rechnen die wenigsten, die heute gekommen sind. "Ich will nichts kaputt machen", sagt Alain, "aber die Politik nimmt doch nur Gewalt richtig ernst." Alain ist gerade 19 Jahre alt geworden, er wohnt noch zu Hause, seine Mutter ist mit ihm allein, er arbeitet in einem Krematorium, sie als Krankenschwester. "Wenn wir Miete und Essen bezahlt haben, bleibt uns am Ende des Monats nichts mehr" - eine alte Frau neben Alain nickt zustimmend.

Die großen Themen der Gelbwesten sind dieselben geblieben: Geld und Not. Es ist eine Bewegung von Menschen, die arbeiten und dennoch nur mühsam über die Runden kommen. Oft wirkt es, als seien all die Menschen in ihren Warnwesten selbst überrascht, dass aus ihrer Wut eine richtige Bewegung wurde. Der vergangene Samstag war in Paris vor allen Dingen von Krawall und Zerstörung geprägt, eine Woche später ist die Stimmung ausgelassener, gelöster. Haben sie jetzt schon gesiegt? Immerhin hat die Regierung doch die Steuer zurückgenommen. Alain schüttelt den Kopf: "Wir haben nicht gesiegt, wir wissen jetzt nur, dass wir viele sind. In diesen vier Wochen auf der Straße sind wir, glaube ich, viel selbstbewusster geworden."

Die Zahlen der Teilnehmer an den Gelbwesten-Protesten gehen zurück. 125 000 Demonstranten zählte das Innenministerium am Samstag in ganz Frankreich, davon 10 000 in Paris. Zum Auftakt vor drei Wochen waren sie noch knapp 300 000 gewesen. Dennoch haben diese Proteste schon jetzt deutlich mehr bewirkt als die Rücknahme einer Steuer. Sie haben gezeigt, wie alleingelassen sich große Teile des Landes fühlen. Die meisten, die sich eine Warnweste überziehen, leben in den Vorstädten und im ländlichen Raum, sie gehören zur unteren Mittelschicht. Ihre Meinung zählt in Paris normalerweise nicht allzu viel. Nun ist es ihnen beinah einen ganz Monat lang gelungen, alle Debatten zu dominieren. Und zum ersten Mal wirkte es so, als könne Frankreichs ehemaliger Erfolgspräsident Emmanuel Macron scheitern.

"Macron hat mich radikalisiert", hat sich einer mit Edding auf den Westenrücken geschrieben. Es ist eine der harmloseren Macron-Beschimpfungen. Immer noch gibt über die Hälfte der Franzosen an, dass sie Sympathien für die Gelbwesten hat. Diese Sympathie hängt direkt mit der Antipathie gegen Macron zusammen. Er eint viele Franzosen auf die für ihn ungünstigste Art und Weise: Sie können gemeinsam auf ihn schimpfen.

Sylvia ist mit ihrem Mann aus Reims gekommen, um "für mehr Kaufkraft zu kämpfen", wie sie sagt. Es ist schwierig geworden auf den Demonstrationen der Gelbwesten, Menschen zu finden, die mit ihrem vollen Namen Interviews geben wollen. Viele hier vertrauen den Medien ebenso wenig wie ihrem Präsidenten Macron. "Wissen Sie, wieviel der für seinen Friseur ausgibt? Und für sein Schwimmbad? Und sein neues Porzellan? Das zahlen alles wir! Das ist doch nicht normal!" Sylvia hat 2017 Marine Le Pen gewählt, nicht Macron. Ob Le Pen die Bürger denn weniger kosten würde? "Immerhin ist sie nicht so arrogant", sagt Sylvia.

Profitiert die rechtsradikale Politikerin Le Pen von diesem Protest?

Die rechtsradikale Le Pen gilt seit Beginn der Bewegung als mögliche Profiteurin der gelben Wut. Deshalb beobachten viele Linke und Liberale die Gelbwesten mit Sorge, auch wenn sie vom Linken Jean-Luc Mélenchon unterstützt werden. Doch eine neue Umfrage des Meinungsforschungsinstitut Elabe zeigt, dass der Kampf gegen Macron der politischen Opposition bislang kaum nützt - auch Le Pen nicht. 24 Prozent der Franzosen geben an, ein positives Bild von ihr zu haben, in den vergangenen vier Wochen hat sie nur einen Prozentpunkt zugelegt.

Der beliebteste Politiker? Der zurückgetretene Umweltminister Nicolas Hulot, 48 Prozent der Franzosen sehen ihn positiv. Und so überrascht es auch nicht, was in Paris an diesem Samstag die zahlenmäßig deutlich bedeutsamere Demo war: Der Marsch fürs Klima. 25 000 Personen gingen am Samstag allein in Paris für eine entschiedenere Umweltpolitik auf die Straße. Auf einem der vordersten Banner konnte man lesen: "Wandeln wir das System, nicht das Klima". Hinter dem Schriftzug standen Menschen in gelber Warnweste.

Anmerkung der Redaktion: Die Anzahl der Teilnehmer an den Demonstrationen in Frankreich wurde am Sonntagmorgen angepasst, nachdem das Innenministerium auf Twitter neue Zahlen veröffentlicht hat.

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