Geheimer Krieg:Die Paranoia grassiert im US-Sicherheitsstaat

Der Wissensdurst ist nicht zu stillen: Seit 9/11 prägt Amerikas Geheimdienste die Furcht, sie könnten etwas übersehen. Der Sicherheitsapparat verfolgt Millionen Spuren und hortet Milliarden Daten, wie belanglos auch immer. Die Justiz ordnet sich schleichend unter.

Von Nicolas Richter, Washington

In den Jahren nach dem Terror vom 11. September 2001 erfuhr der amerikanische Vize-Justizminister James Comey aus dem täglichen Lagebericht von einer neuen Gefahr: "Drohung aus den Philippinen, die USA anzugreifen", stand da. Comey bat die Bundespolizei FBI um Einzelheiten. Er bekam eine E-Mail zu lesen, in der jemand geschrieben hatte: "Liebes Amerika, ich werde Dich angreifen, wenn Du mir nicht 99999999999999999999 Dollar zahlst. MUHAHAHA."

Das FBI ermittelte eifrig den Absender und setzte die philippinische Polizei in Bewegung, die sich schließlich mit den Eltern des vermeintlichen Staatsfeindes unterhielt. "Jedermann konnte erkennen, dass die Mail von einem 13-Jährigen stammte und nicht ernst gemeint war", hat Comey einmal erzählt. Aber damals sei man eben der Maxime gefolgt, jeder Spur nachzugehen, und zwar wirklich jeder.

Allerdings scheint die Geschichte dieser E-Mail bis heute den Allgemeinzustand des amerikanischen Sicherheitsapparats zu beschreiben. Es ist ein Apparat, der sich vor mehr als einem Jahrzehnt vorgenommen hat, nie mehr etwas zu verpassen. Er hat Millionen Spuren verfolgt, wie belanglos auch immer. Er hortet Milliarden Daten, von welchen Unschuldigen auch immer. Er bricht seine Regeln und die Gesetze seiner Freunde, wo auch immer.

Kontuinität unter Obama

Seit 9/11 haben Verantwortliche der US-Terrorabwehr oft von der Furcht erzählt, sie könnten etwas übersehen. Im Jahr 2005 berichtete das FBI, man habe im ganzen Land keine einzige Al-Qaida-Zelle entdeckt; gleichzeitig aber äußerte sich der damalige FBI-Chef Robert Mueller sehr besorgt - "über das, was wir nicht sehen". Der frühere CIA-Chef George Tenet hat die spürbare Angst beschrieben "vor all dem, was wir nicht wussten". Und auch der einstige Verteidigungsminister Donald Rumsfeld philosophierte damals über das "unbekannte Unbekannte".

Diese Philosophie aus der Regierung von George W. Bush besteht nun allerdings weitgehend unter dem demokratischen Präsidenten Barack Obama fort. Die amerikanische Exekutive hat sich so intensiv und dauerhaft mit Gefahrenanalysen befasst, dass sie längst selbst davon beherrscht wird. "Das ist so, als würde man sich in seiner Wohnung verschanzen und die Welt draußen nur dadurch erleben, dass man permanent Polizeifunk hört", sagt der Terrorexperte John Mueller.

In Europa fragt man sich, warum die US-Regierung so rücksichtslos ist, warum sie die Telefondaten ihrer Bürger speichert, warum sie die Kanzlerin belauscht, warum sie Fluggästen nachstellt oder eine weltweite Logistik für Tötungsdrohnen geschaffen hat. Letztlich erklärt sich vieles davon aus der Paranoia, die seit 2001 im US-Sicherheitsstaat grassiert. Gefährliches kann demnach überall und jederzeit passieren, und es rechtfertigt jedes Mittel.

"Nie wissen" ist keine Option mehr

"Man kann ja nie wissen", heißt der Spruch der Übervorsichtigen. CIA, FBI und NSA haben diese Redensart angepasst. "Nie wissen" ist keine Option mehr. Aus Sicht der Staatsschützer muss es jetzt heißen: Man kann nie nichts wissen.

Dieser staatliche Wissensdurst ist nie zu stillen. Unter Terrorfahndern herrscht seit Jahren die Vorstellung, dass die USA voller Verschwörer sind, die sie zwar gerade nicht sehen können, die aber zwangsläufig existieren. Dass die Terroristen unsichtbar sind, liegt aus Sicht der Ermittler nicht etwa daran, dass es keine Terroristen gibt, sondern daran, dass die Ermittler schlecht sehen. Die Gier nach Information, gepaart mit der dunklen Ahnung, was alles passieren könnte, habe eine "aggressive, panikartige Haltung" erzeugt, schreibt der Jura-Professor Jack Goldsmith, der einst die Regierung beraten hat.

Der frühere FBI-Chef Mueller hat die Polizei nach 2001 völlig neu aufgestellt, und doch malte er sich jeden Abend aus, wie in einem Flugzeug eine Bombe explodiere. "Wer unsere Geheimdienste kritisiert, sollte sich mit den Familien treffen, die jemanden auf PanAm-Flug 103 verloren haben oder am 11. September. Das stellt alles in ein neues Licht", sagt er heute.

Ähnlich redet Keith Alexander, der Chef der weltweit lauschenden National Security Agency (NSA). Als er jüngst im Parlament die ausschweifenden Aktivitäten seiner NSA erklären sollte, sagte er, das mache ihm nichts aus. Schlimmer wäre es, wenn er erklären müsste, warum der Staat einen zweiten 11. September zugelassen habe. So ähnlich denkt vermutlich jeder, der im Washingtoner Apparat für Sicherheit verantwortlich ist, vom Abgeordneten über den Behördenchef - bis hin zum Präsidenten.

"Sie haben gegen die Regeln verstoßen. Sehr."

Im Namen der Gefahrenabwehr haben es sich Amerikas Geheimdienste deswegen angewöhnt, sich selbst zu bedienen. Sie sammeln, was sie bekommen können, und wenn sie es nicht nehmen dürfen, nehmen sie es trotzdem. Der demokratische Senator Ron Wyden, im Kongress zuständig für die Aufsicht der Dienste, sagt: "Sie haben gegen die Regeln verstoßen. Sehr."

Wyden kann das begründen: Er beruft sich auf die Rechtsprechung des Foreign Intelligence Surveillance Court (Fisc), eines Sondergerichtes, das einst für Spionageabwehr geschaffen wurde, sich aber zu einer Art Schatten-Verfassungsgericht entwickelt hat. Es ist ein einmaliges Tribunal, weil vor den Richtern nur eine Partei steht: ein Staatsanwalt, der die Anliegen der Regierung vertritt. Für die andere Seite - die Bevölkerung, die Belauschten, die Verteidiger der Bürgerrechte - spricht niemand.

Obwohl die Prozesse so einseitig sind, haben die Richter mehrmals vernichtend über die Methoden der NSA geurteilt. Sie stellten nicht nur fest, dass die NSA ihre Vollmachten überschritt, sondern auch, dass die Regierung das Gericht irreführte. Im Jahr 2009 befand das Tribunal, dass die NSA beim Durchforsten von Telefondaten "so oft und so systematisch" gegen die Regeln verstoßen habe, dass man festhalten müsse: Der vereinbarte Kontrollmechanismus habe "nie wirklich funktioniert".

Im Jahr 2011 erteilte der Fisc-Richter John Bates eine weitere Rüge, weil die Regierung das Ausmaß der Datensammlung "völlig falsch dargestellt habe", und zwar zum dritten Mal in weniger als drei Jahren. Entgegen "wiederholter Zusagen" der Regierung habe die NSA beim Durchforsten ihrer Datenbanken routinemäßig gegen die Vorschriften verstoßen. Die US-Regierung hat kürzlich unter öffentlichem Druck mehrere dieser geheimen Beschlüsse veröffentlicht.

Nach den Enthüllungen des Whistleblowers Edward Snowden im Sommer hatte die NSA noch beteuert, sie sammle zwar Daten von Milliarden Telefonanrufen, werte aber nur ein paar hundert davon aus, und dies auch nur bei konkretem Terrorverdacht. Die Richtersprüche legen jetzt nahe, dass stets viel mehr ausgewertet wird als erlaubt.

Der Missbrauch ist im System angelegt

Der Missbrauch ist im System angelegt. Die Befugnisse der NSA werden nur in Umrissen vom Parlament geregelt; Einzelheiten legt das Fisc-Gericht durch seine Rechtsprechung selbst fest, und es hat die Vollmachten der Geheimdienste so heimlich wie massiv ausgeweitet. Weil das Gesetz das Sammeln von Daten nur erlaubt, wenn diese Daten "relevant" sind für Ermittlungen gegen Staatsfeinde, hat das Gericht die Telekommunikation praktisch in ihrer Gesamtheit für "relevant" erklärt.

Allerdings sind die Richter dabei auch systematisch von der Regierung getäuscht worden. "Nun kommt endlich ans Licht, dass die Fisc-Erlaubnis für diese riesige Datensammlung auf einer fehlerhaften Darstellung davon beruht, wie die NSA diese Daten benutzt", bemerkte im Jahr 2009 der Fisc-Richter Reggie Walton. Die NSA hat diese Vorwürfe heruntergespielt. Das System sei komplex, Fehler seien versehentlich geschehen; niemand bei der NSA habe den vollen Überblick gehabt.

Die Lehre daraus ist die gleiche wie aus etlichen anderen Geheimdienstexzessen und -pannen: Wenn Regierungen geheime Kriege führen, sind Maßlosigkeit und Gesetzesbrüche beinahe die zwangsläufige Konsequenz. Es fehlt jede Kontrolle, weil Öffentlichkeit, Parlament und Sondergerichte auf Abstand gehalten und belogen werden - oder ihrerseits lieber wegsehen.

Enorme Versuchung

Für die Sicherheitsbehörden ist derweil die Versuchung enorm, die fehlende Kontrolle auszunutzen und ihre Grenzen zu überschreiten. Aus ihrer Sicht ist ja jedes Hindernis ein Sicherheitsrisiko.

Einerseits beginnt nun die Zeit der Kontrolleure und Reformer. Der US-Kongress berät über Gesetzentwürfe, die das Spähen und Lauschen zumindest in den USA beschränken würden, das Weiße Haus hat eine Kommission eingesetzt, und in Deutschland wird der Bundestag über die Serie "Geheimer Krieg" debattieren.

Andererseits warnt US-Senator Wyden, dass sich alle Reformer mit mächtigen Gegnern anlegen. Die "Brigaden des Weiter-so" kämpften entschlossen dafür, ihr Schattenreich zu bewahren. Präsident Obama hat sich noch nicht auf Einzelheiten festgelegt, aber man kann daran zweifeln, dass er sehr viel ändern möchte. In der Terrorabwehr setzt er nicht mehr auf Kriege, sondern auf beschränkte Operationen mit Drohnen oder Elite-Einheiten, die wiederum abhängig sind von Erkenntnissen aus der elektronischen Überwachung.

"Der Überwachungsstaat", sagt der US-Internetexperte Bruce Schneier, "ist sehr robust. Sowohl in dem, was er kann, als auch in dem, wie er es begründet."

Eine Ahnung davon erhielt im Sommer der deutsche Verfassungsschutz-Präsident Hans-Georg Maaßen. Von Snowdens Enthüllungen erfuhr er aus den Medien, während er gerade mit NSA-Chef Alexander frühstückte. Alexander soll gesagt haben, Snowden sei bloß ein kleiner Verräter aus Hawaii. Dann frühstückten sie gelassen zu Ende.

Am Montag in der SZ der zehnte Teil der Serie Der geheime Krieg: wie das US-Verteidigungsministerium Forschungsprojekte in Deutschland fördert. Mehr unter: www.geheimerkrieg.de

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