Geheimdienste - Berlin:"Ende Gelände" linksextremistisch? Rot-Rot-Grün uneinig

Berlin
Georg Kössler (Grüne) im Berliner Abgeordnetenhaus. Foto: Monika Skolimowska/dpa-Zentralbild/ZB/Archivbild (Foto: dpa)

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Berlin (dpa/bb) - Die Einstufung der Anti-Kohle-Initiative "Ende Gelände" in Berlin als linksextremistisch hat zu Streit in der rot-rot-grünen Koalition geführt. Die Berliner Grünen kritisierten am Dienstag den Verfassungsschutz wegen dieser Bewertung und stellten seine Legitimation in Frage. Berlins Innensenator Andreas Geisel (SPD) verteidigte seine Behörde und sprach von einer sehr "sorgfältig differenzierten" Darstellung.

Im am Dienstag veröffentlichten Verfassungsschutzbericht 2019 wird die Berliner Ortsgruppe von "Ende Gelände" mit 30 Mitgliedern im Kapitel Linksextremismus behandelt. Die Initiative stelle sich zwar als Klimaschutz-Akteur dar. "Dabei wird verschleiert, dass die tatsächlichen Ziele weit darüber hinaus reichen", heißt es. So bezeichne sich die linksextremistische Gruppe "Interventionistische Linke" als "maßgeblicher Bestandteil" von "Ende Gelände".

Die Initiative habe öfter gezeigt, dass sie bei Aktionen des zivilen Ungehorsams" Gewaltanwendung "mindestens billigend in Kauf nimmt", so die Verfassungsschützer. Demonstranten seien zu Besetzungen von Baggern animiert und Angriffe auf Polizisten positiv bewertet worden.

Das Aktionsbündnis "Ende Gelände" wehrte sich am Dienstagabend in einer Mitteilung. Nach Angaben der Initiative gibt es keine rechtskräftigen Verurteilungen im Zusammenhang mit den "Ende Gelände"-Massenaktionen. "Gerade in Zeiten von rassistischen Morden wie in Hanau und Halle und deren Vernachlässigung durch die Behörden wird klar, dass der Verfassungsschutz eben nicht dem Schutz von Grundrechten dient", erklärte Sprecherin Kim Solievna.

Der Grünen-Landesvorsitzende Werner Graf kritisierte: "Blockaden für den Kohleausstieg sind radikale Protestaktionen, aber keine Gefahr für die Verfassung. Ganz im Gegenteil: wer für den Kohleausstieg kämpft, rettet unseren Planeten." Dass der Verfassungsschutz trotz der rechtsextremen Terrorgefahr "penibelst darauf bedacht ist, die Gefahr von links und rechts als gleich darzustellen, stellt seine Existenz immer mehr in Frage". Laut dem "Tagesspiegel" äußerte auch Justizsenator Dirk Behrendt von den Grünen ähnliche Kritik.

Der Linken-Klimapolitiker im Bundestag, Lorenz Gösta Beutin, erklärte: "Nach der Logik des Berliner Verfassungsschutzes müsste man Gandhi als extremistisch einstufen." Die Gruppe "Ende Gelände" protestiere friedlich, die Einstufung sei ein Skandal und müsse rückgängig gemacht werden.

Geisel sagte, die linksextremistische Szene versuche derzeit, über Themen wie den Klimaschutz wieder Anschluss zu finden an gesellschaftlich relevante Debatten. Man müsse allerdings unterscheiden zwischen denjenigen, die Angriffe auf Polizisten rechtfertigen, und anderen Menschen, die sich mit Demonstrationen oder politischen Ämtern für Klimaschutz einsetzen. Nicht alle Teilnehmer von Demonstrationen, zu denen "Ende Gelände" aufrufe, seien selber extremistisch.

In seinem Jahresbericht sah der Verfassungsschutz vor allem Hasskommentare und verbale Angriffe über das Internet als Bedrohung für Gesellschaft und Demokratie. Immer öfter zeige sich, dass Hass nicht im Internet bleibe, "sondern sich das Verhalten von Menschen auch in der Realwelt verändert", hieß es in einem Sonderkapitel zum Thema "Hate Speech". Mit den virtuellen Bedrohungen sei auch die Zahl tatsächlicher Angriffe gestiegen.

Durch das Internet und die vielen sozialen Portale seien immer mehr Menschen betroffen. "Massiv zugenommen haben Verunglimpfungen, Beleidigungen und Bedrohungen auf einer persönlichen Ebene." Das könne dazu führen, dass sich weniger Menschen politisch und sozial engagierten und die Demokratie an Rückhalt verliere. Hasskommentare kämen vor allem aus dem rechtsextremen Spektrum. Netzwerke initiierten Kampagnen mit Verschwörungstheorien und "alternativen Fakten". Andere Meinungen würden an den Rand gedrängt. "Das hat unmittelbaren Einfluss auf das gesellschaftliche Klima und den Meinungspluralismus."

RECHTSEXTREMISMUS: 1420 Menschen gehörten dem Verfassungsschutz zufolge zu diesem Spektrum, 700 davon seien gewaltbereit. Die Gefahr wächst laut dem Bericht: "Das Jahr 2019 hat gezeigt, dass die Bereitschaft von Rechtsextremisten zur Begehung auch schwerster Straftaten, bis hin zu politisch motiviertem Mord und terroristischen Attentaten, zunimmt."

REICHSBÜRGER: Diese Szene bewege sich in einem "extremistischen, aber nicht notwendigerweise klassisch rechtsextremistischen Spektrum". Die meisten "Reichsbürger" hätten "kein geschlossenes ideologisches Weltbild". Zugerechnet werden etwa 670 Menschen, davon seien 150 rechtsextremistisch eingestellt.

LINKSEXTREMISMUS: Zu diesem Bereich werden 3400 Menschen gezählt. Davon seien 980 gewaltbereite Autonome. Die seit Jahren steigenden Gesamtzahlen liegen am Mitgliederzuwachs der "Roten Hilfe", einem Unterstützungsverein für Linksextremisten. Zahlreiche Angriffe auf Polizisten, Justizbeamte und Firmenvertreter werden Linksextremen zugeordnet. Direkte Angriffe auf Menschen hätten zugenommen.

ISLAMISMUS: 2170 Menschen stuft der Verfassungsschutz als Islamisten ein. 30 davon gehörten zu einem "islamistisch-terroristischen" Potenzial, sie kommen vor allem aus dem Nordkaukasus. 1140 sind Salafisten, also besonders radikale Muslime (2018: 1020). Die Salafisten agierten inzwischen in der Öffentlichkeit deutlich zurückhaltender. Es gebe einen Rückzug in private Zirkel und das Internet. 10 Prozent der etwa 100 Berliner Moscheen dienten weiterhin als Plattformen für Vorträge und als Treffpunkte. Die wichtigsten: die Al-Nur-Moschee in Neukölln, die As-Sahaba-Moschee in Wedding und die Ibrahim al-Khalil-Moschee in Tempelhof.

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