Süddeutsche Zeitung

"Mein Leben in Deutschland":Wenn Freiheit missbraucht wird

Unser Kolumnist Yahya Alaous ärgert sich über einen geflüchteten Landsmann, der mit seinen Youtube-Videos auf dümmliche Weise Hass schürt.

Kolumne von Yahya Alaous

Kurz nach meiner Ankunft in Deutschland, es war 2015, schickte ein Freund mir ein Youtube-Filmchen, in dem eine Gruppe von jungen Syrern eine Szene einer bekannten syrischen Serie nachstellen. Die Szene endet damit, dass die Darsteller sich mit Messern und Dolchen massakrieren. Ich erinnere mich an die folgende öffentliche Diskussion, in der einige Deutsche fragten, ob dies die Menschen seien, die sie eingeladen hatten, um mit ihnen in Sicherheit zu leben.

Damals konnte ich es mir nur folgendermaßen erklären: in Syrien war diese brutale, aus deutscher Sicht nur "vermeintlich" humorvolle Darstellung von Gewalt normal. Doch auch wenn deutsche Gesetze viel Platz für - vor allem künstlerische - Freiheit geben, ja schenken, heißt das nicht, dass jeder postpubertäre Handyfilmer diese Freiheit für seinen sinnfreien Nonsens auch ausnutzen sollte. Irgendwie konnte ich es den jungen Leuten damals aber noch nachsehen. Sie drehten eine stümperhafte Parodie auf eine syrische Serie und lernten dann aufgrund massiver Kritik, dass ihre Sorte Humor in der für sie neuen Öffentlichkeit eher schlecht rezipiert wird.

Yahya Alaous

arbeitete in Syrien als politischer Korrespondent einer großen Tageszeitung. Wegen seiner kritischen Berichterstattung saß der heute 47-Jährige von 2002 bis 2004 im Gefängnis, sein Ausweis wurde eingezogen, ihm wurde Berufsverbot erteilt. Nach der Entlassung wechselte er zu einer Untergrund-Webseite, die nach acht Jahren vom Regime geschlossen wurde. Während des Arabischen Frühlings schrieb er unter Pseudonym für eine Oppositions-Zeitung. Als es in Syrien zu gefährlich wurde, flüchtete er mit seiner Frau und seinen beiden Töchtern nach Deutschland. Seit Sommer 2015 lebt die Familie in Berlin. In der SZ schreibt Yahya Alaous regelmäßig über "Mein Leben in Deutschland".

Fünf Jahre später nun hat sich wieder Ähnliches, nein Schlimmeres ereignet. Ein junger Syrer hat drei vermeintlich lustige Youtube-Clips veröffentlicht, Filmchen, die mich sehr betroffen machen.

Der erste dieser unsäglichen Filme: Ein mit blonder Perücke und einer Maske des französischen Präsidenten Emmanuel Macron verkleideter Mann wird, an den Händen gefesselt, durch Berlin-Neukölln getrieben, während andere junge Männer ihn schlagen und treten. Dazu hört man ihr Gelächter. Wie man auf dem Video erkennt, verstört die Szene Passanten.

Mehr als eine Million Abonnenten

Als ich das Video sah, dachte ich nur: "Was für ein Vollidiot macht so etwas!?" Ich fand heraus, dass es sich um einen syrischen Youtuber handelt, der mehr als eine Million Abonnenten hat. Und das, obwohl er über keinerlei filmische, journalistische oder sonst nennenswerte Ausbildung verfügt und nicht einmal die arabische Schriftsprache korrekt beherrscht. Wie peinlich!

Nach den Anschlägen in Frankreich wurde in Europa wieder intensiv über den Islam, den politischen Islam und Islamismus in Europa diskutiert. Und wenn so eine Debatte hochkocht, erreicht sie irgendwann die Spitze des Staates -sowie, am anderen Ende, die Populärkultur und die Generation Youtube, in der man nach Aufmerksamkeit schreien muss, um Klicks, Werbeaufträge und zum Teil ansehnliche Monatseinkommen zusammenzubekommen.

Staatspräsidenten sollten sich mit derlei Kram nicht abgeben. Sie sollten es Intellektuellen oder Ministern überlassen, über diese relativ sinnfreien und vor allem dumm-dreist-beleidigenden Aggressionen zu diskutieren. Sonst lenken sie nur die Aggressionen von wirklich radikalen Kreisen auf sich und stärken den Populismus.

Angriff auf Polizistendarsteller

Im darauffolgenden Video attackierte der Youtuber Statisten, die als deutsche Polizisten verkleidet waren. Er schmiss sie zu Boden, "schoss" auf sie wie in einem Actionfilm, dann überwältigte er einen Polizistendarsteller und verließ die Szene. Ich kann für diesen lächerlichen Clip keine passende Erklärung finden. Eine, die mir in den Sinn kommt: dass dieser "Youtuber" seinen Hass auf die syrische Ordnungsmacht mit nach Deutschland gebracht hat und nun auf deutsche Polizisten überträgt. Oder geht es doch nur darum, Follower zu generieren? In Wahrheit hetzt er unter dem Deckmantel der Kunstfreiheit gegen die Ordnungsmacht des ihn aufnehmenden Staates.

Ich behaupte nicht, dass alle deutschen Polizisten Engel sind, aber sicher stehen sie nicht in einem grundsätzlichen rassistischen Konflikt mit "Arabern" oder "Flüchtlingen". Nein, Polizisten haben den Auftrag, Gesetzesbrecher zu stellen, gleich welcher Herkunft und Hautfarbe. Mir irritiert zudem, dass der Filmer sich selbst nicht als Islamist sehen will und unter dieses Video schrieb, man solle "Polizisten mit Respekt" behandeln. Doch im Video wird deutlich, dass er eben dies nicht tut.

Geflüchteten einen Bärendienst erwiesen

Ich kenne diesen Youtuber nicht persönlich, aber für mich ist klar, dass er psychologische Hilfe braucht. Wer in einer freien, demokratischen Gesellschaft lebt, sollte diese Freiheiten nicht überreizen. Ich bezweifle, dass der Youtuber sein Treiben selbstständig einstellen wird. Er scheint die Folgen seines Handelns nicht überblicken zu können. Denn sein dummes Gefilme wird westlichen Zuschauern das Gefühl geben, dass islamistischer Hass nun in der Mitte der Gesellschaft der Geflüchteten angekommen ist.

Die weißen Kleider, die "Allah-u-Akbar"-Rufe, die im Macron-Video verwendet werden, all das ruft bei deutschen Zuschauern natürlich schlechte Erinnerungen hervor. Solche Videos helfen der extremen Rechten in ihrem Kampf gegen die Zuwanderung und vergrößern die Verunsicherung der Bürger beim Anblick von Gruppen junger Männer auf öffentlichen Plätzen. Sie verstärken die Dämonisierung von Geflüchteten und Muslimen. Ein Wort, das ich erst jetzt lerne: Den Geflüchteten und der offenen Gesellschaft wird ein Bärendienst erwiesen.

Daher hoffe ich inbrünstig, dass die deutschen Gerichte alles unternehmen werden, um diesem Youtuber sein Geschäftsfeld zu entreißen. Es besteht Hoffnung. Denn im dritten Video macht der junge Mann und Hartz-4-Empfänger einen Fehler: Er gibt deutschen Teenagern die "Challenge" vor, dreimal den Koran zu küssen (dann ertönt "Allah-u-Akbar" aus dem Off), wofür die Teens teure Geschenke wie iPhones bekommen. Zuvor stellte er ihnen peinliche Fragen wie: "Habt ihr in letzter Zeit Sex gehabt und euch danach gewaschen?"

Das Job-Center ermittelt

Ich verstehe diesen angeblichen Humor nicht. Natürlich kann man den Koran küssen, weil er zu Güte und Friedfertigkeit aufruft. Was aber soll es, wenn dieser Filmer deutsche Teens zum Küssen des Korans bringt, wenn diese doch in Unkenntnis seines Inhalts leben? Es kann schön sein, als Leser ein Buch, das Wissenszugewinn und Erkenntnisse verschafft hat, zu küssen. Warum aber eine fremde Heilige Schrift? Nur weil's geht?

Wahrscheinlich hat sich der junge Mann nun selbst eine Falle gestellt, aus der ihn auch das wunderbar freie Deutschland so schnell nicht wieder herauslassen wird. Durch das Verschenken der hochwertigen Elektrogeräte sind die Finanzbehörden und das Jobcenter auf ihn aufmerksam geworden. Da er wegen der vielen Abonnenten einmal zu Protokoll gegeben hat, "über 1000 Euro monatlich" zu verdienen, ermittelt nun das Job-Center gegen ihn.

Übersetzung: Jasna Zajček

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5162586
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ/kit
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.