Süddeutsche Zeitung

Gefangenenaustausch in Nahost:Perfide Inszenierung

Die Hamas nennt den Gefangenenaustausch mit Israel einen "historischen Sieg" und stimmt das Volk schon seit Tagen auf Jubelfeiern ein. Doch was dieser Handel für die Hamas und für Israel bedeutet, wird sich erst zeigen, wenn die Freudenschüsse verklungen sind. Es drohen Gefahren für beide Seiten.

Peter Münch, Tel Aviv

Im Gaza-Streifen wird die große Party geplant. Ein Triumphzug soll es werden von der Grenze in Rafah bis nach Gaza-Stadt. Zehntausende, ach was: Hunderttausende auf palästinensischem Boden sollen in der nächsten Woche die von Israel im Austausch gegen Gilad Schalit freigelassenen Gefangenen willkommen heißen. Die grünen Flaggen werden wehen, und mit Jubelreden stimmen die Führer der Hamas das Volk schon seit Tagen auf diese Siegesfeier ein. Doch was dieser Handel für die Hamas - und auch für Israel - tatsächlich bedeutet, wird sich erst zeigen, wenn sich nach den Freudenschüssen die Rauchschwaden verzogen haben. Denn es lauern Gefahren für beide Seiten.

Klar ist, dass die Hamas das Maximum aus diesem Gefangenenaustausch herausholen will. Im Gaza-Streifen hatten die Herrscher zuletzt dramatisch an Ansehen verloren. Die Menschen stöhnen über neue Steuern, die das Leben verteuern, und sie wundern sich über manchen Prunk, mit dem sich die frommen Führer plötzlich umgeben. Nun aber bietet sich die einmalige Gelegenheit, dem Volk zu zeigen, wer allein dem Feind erfolgreich die Stirn bietet.

Khaled Meschal, Exil-Führer der Hamas aus Damaskus, spricht von einem "historischen Sieg" über Israel, und aus dem Libanon dröhnt das Echo der Waffenbrüder von der schiitischen Hisbollah-Miliz. Sie gratuliert zu diesem "riesigen Erfolg über das zionistische Gebilde, der beweist, dass der Pfad des Widerstands zum Ziel führt". Nur im Westjordanland schweigen sie still - die von der Einigung mit Israel überrumpelten Rivalen von der Fatah sind offenbar undankbar.

Meschal hat deshalb zum Telefon gegriffen und Machmud Abbas in Südamerika angerufen. Dort wirbt der Präsident auf eher verlorenem Posten für die Anerkennung Palästinas durch die UN, ist also wieder einmal weitab vom Geschehen. Doch die Sprachrohre der Hamas versichern hinterher, er habe den Handel "willkommen geheißen". Nun propagieren sie, dass nach dem Gefangenenaustausch die inner-palästinensische Versöhnung forciert werden müsse. Ein Treffen zwischen Meschal und Abbas solle es geben. Die Hamas will nach diesem Erfolg auch politisch in die Offensive gehen.

Doch nicht nur gegenüber der Fatah präsentiert sie sich wieder auf Augenhöhe, auch gegenüber Israel. Gilad Schalit wird als Kriegsgefangener präsentiert, der gegen andere Kriegsgefangene ausgetauscht wird - ungeachtet der Tatsache, dass der israelische Soldat von einem Terrorkommando verschleppt und gewiss nicht gemäß den Regeln der Genfer Konvention in Geiselhaft gehalten wurde. Die Entführer kündigten an, dass sie ein Video veröffentlichen würden, das die gute Behandlung des Gefangenen über all die Jahre belegen soll. Zudem wird auf einer Hamas-nahen Webseite vermeldet, Schalit habe versichert, dass er nicht in den israelischen Armeedienst zurückkehren und obendrein allen seinen Kameraden empfehlen werde, wegen der Gefahren nicht in der Nähe des Gaza-Streifens Dienst zu tun.

Doch weder solche perfiden Inszenierungen noch perfekt choreographierte Triumphmärsche werden längerfristig darüber hinwegtäuschen können, dass die Hamas bei diesem Geiselgeschäft längst nicht alle Ziele erreicht hat. Ismael Hanija, der Hamas- Premier aus Gaza, zeigt sich denn auch deutlich weniger siegestrunken als sein Exil-Kollege Meschal und spricht davon, dass "75 Prozent der Forderungen" durchgesetzt wurden. Er weiß, dass ihm die Probleme mit den anderen 25 Prozent auf die Füße fallen könnten. Denn es sind ja nicht nur die Familien und Anhänger jener prominenten Häftlinge, die weiter im Gefängnis bleiben müssen, die Grund zur Enttäuschung haben. Die Begeisterung über die Freipressung von 1027 Gefangenen könnte allgemein schnell verpuffen, weil sich nichts an den Lebensverhältnissen im Gaza-Streifen verbessert.

Und das Gegenteil ist der Fall: Die Blockade bleibt bestehen, und nach der Heimkehr Gilad Schalits könnte Israel sogar die Schrauben wieder anziehen. Denn im Kleingedruckten zeigt dieser Handel auch, wie die Regierung in Jerusalem den Gaza-Streifen sieht: als ein schwarzes Loch, in dem immer weiter auch explosive Stoffe quasi versenkt werden können. Anders ist es nicht zu erklären, dass eine beträchtliche Zahl der Freigelassenen wegen der von ihnen drohenden Gefahr nicht in ihre Heimat im Westjordanland zurück dürfen, sondern nach Gaza abgeschoben werden. In israelischen Sicherheitskreisen heißt es dazu, dass dort unter den vielen tausend Extremisten ein paar hundert weitere kaum auffallen. Doch die Radikalisierung des Gaza-Streifens wird das weiter befördern. Der nächste Waffengang scheint ohnehin nur eine Frage der Zeit zu sein. Auf den Triumphzug könnten sehr bald wieder Trauermärsche folgen.

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SZ vom 15.10.2011/beu
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