Süddeutsche Zeitung

Gefangene Palästinenser im Hungerstreik:Märtyrer von morgen

Fast 4700 Palästinenser sitzen in israelischen Gefängnissen, sie können dort ohne Angabe von Gründen bis zu sechs Monaten festgehalten werden. Gefangene aus dem Gaza-Streifen dürfen nicht einmal Besuch von Familienmitgliedern bekommen. Mit einem Hungerstreik kämpfen nun Tausende Inhaftierte in Israels Gefängnissen für eine gerechte Behandlung - und werden so zu Volkshelden.

Peter Münch

Die Wangen sind eingefallen, die Augenlider schwer - der Hungerstreik hat Spuren hinterlassen im Gesicht von Asis Mahmud Halahleh. Dabei ist es gar nicht er, der fastet, sondern sein Sohn Thaer, der vor nunmehr 73 Tagen in seiner Gefängniszelle in Israel beschloss, das Essen zu verweigern aus Protest gegen die Haftbedingungen. Seitdem eilt sein Vater rastlos durch das Westjordanland, mobilisiert die Unterstützung, klagt die Israelis an, demonstriert vor den Vertretungen der Vereinten Nationen und des Roten Kreuzes. Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit, und die Sorge um den Sohn ist sein ständiger Begleiter. "Jede Sekunde ist wie Folter für uns", sagt er, "wir wissen, dass er in akuter Lebensgefahr ist. Es ist wie ein langsamer Tod."

Thaer Halahleh, 34, ist gemeinsam mit seinem Mitgefangenen Bilab Diab, 27, zur Symbolfigur geworden in einem neuen Kampf der Palästinenser, bei dem die Essensverweigerung zur Waffe wurde. Von den fast 4700 palästinensischen Häftlingen, die in Israels Gefängnissen sitzen, haben sich mittlerweile mehr als 2000 dem Hungerstreik angeschlossen. Und nicht nur hinter Gittern wird dieser Kampf ausgefochten. Überall im Westjordanland und im Gaza-Streifen stehen Protestzelte, in denen Tag und Nacht die Solidarität mit den hungernden Häftlingen demonstriert wird. Sie sind die neuen Helden der Palästinenser und könnten schon bald die neuen Märtyrer sein.

Drinnen wie draußen aber wird der Durchhaltewille zelebriert. Aus dem Protestzelt in Ramallah scheppert laute Musik, es flattern palästinensische Fähnchen im Wind und auf Transparenten prangen die Fotos der Gefangenen. In langen Reihen sitzen die Solidaritätsbesucher auf Plastikstühlen, rechts die Männer, links die Frauen.

Asis Mahmud Halahleh wird hier als Vater des Helden-Häftlings Thaer fast ehrfürchtig gegrüßt von den Neuankömmlingen, und er weiß, was er zu sagen hat an diesem Ort zu dieser Zeit: "Die Gefangenen machen den Hungerstreik nicht für sich selbst", erklärt er, "sie tun es für unser ganzes Volk, damit es in Freiheit leben kann." Der Druck ist groß, die Angst um das Leben des Sohnes prallt auf die Erwartungen des ganzen Landes. "Natürlich will ich, dass er lebt und mit seiner Familie zusammen sein kann", sagt der Vater, "aber Thaer hat immer gesagt, es geht um ein würdiges Leben und nicht um ein Leben unter Besatzung." Zu Hause im Dorf Kahras nahe Hebron mögen die Mutter und die Ehefrau samt der zweijährigen Tochter verrückt werden vor Sorge. Doch niemals könnte er es wagen, seinen Sohn zu bitten, den Hungerstreik zu beenden, schon gar nicht öffentlich.

Erst müssen die Forderungen der Gefangenen erfüllt sein. Ganz oben auf der Liste steht ein Ende der sogenannten Administrativhaft, bei der Palästinenser ohne Angabe von Gründen und ohne Gerichtsverfahren zunächst für sechs Monate im Gefängnis gehalten werden können; danach kann die Haft beliebig verlängert werden. Thaer Halahleh wurde im Juni 2010 zu Hause abgeholt und inhaftiert. Vorgeworfen wird ihm vermutlich Mitgliedschaft im Islamischen Dschihad, doch bis heute gibt es keine Anklage. "Wenn wir beten, sagen die Israelis, wir sind Islamisten", sagt sein Vater, "wenn wir nicht beten, dann sind wir Kommunisten."

Gefordert wird außerdem ein Ende der Isolationshaft, in der manche Gefangene über Jahre sitzen, sowie eine Lockerung der Haftbedingen, die 2006 nach der Entführung des israelischen Soldaten Gilad Schalit in den Gaza-Streifen verschärft worden waren. Schalit ist seit einem Gefangenenaustausch im vorigen Oktober frei, doch die Restriktionen gelten weiter. Gefangene aus dem Gaza-Streifen können deshalb keinen Familienbesuch bekommen, sich kaum weiterbilden, neue Bücher finden nur schwer einen Weg in die Zellen.

Wir verlangen ja gar nicht, dass die Gefangenen freigelassen werden, wir wollen nur das Minimum an Menschenrechten", sagt Sami Musleh, der zu den Organisatoren des Protestzelts gehört. Mit ein paar anderen hat er sich vor sieben Tagen sogar dem Hungerstreik angeschlossen. In ihrem stickigen Lager liegen die müden Männer auf Matratzen, manche rauchen, manche nippen am Wasser, einer spielt auf der Flöte.

Nur Sami Musleh steht im schwarzen Trainingsanzug aufrecht wie ein Baum im Zelt und erklärt die Ziele dieses Kampfes. Er hat selbst neun Jahre in israelischen Gefängnissen gesessen. Es ging um Widerstand gegen die Besatzung, sagt er, aber über seine Taten schweigt er sich ebenso aus wie über die seines Bruders, dessen Bild auf einem gewaltigen Poster zu sehen ist. "Zu neun Mal lebenslang plus 50 Jahren ist er verurteilt worden, das kann kein Mensch aushalten", sagt er.

Zufrieden ist er mittlerweile aber mit der Unterstützung durch die palästinensische Führung. Präsident Mahmud Abbas hat sich mit den Familien der Hungerstreikenden getroffen und versprochen, diesen Kampf auch in die internationale Arena zu tragen. Die Arabische Liga soll sich damit befassen, Israel soll unter Druck geraten. UN-Generalsekretär Ban Ki-Moon hat bereits die Regierung in Jerusalem gemahnt, die Administrativ-Häftlinge entweder anzuklagen oder freizulassen.

Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz hat ebenso wie die Europäische Kommission gefordert, der Gesundheit der Hungernden höchste Priorität einzuräumen. Denn wenn einer der Häftlinge stirbt, dann droht Gewalt. Die Hamas und der Islamische Dschihad überbieten sich von Gaza aus bereits mit Drohungen, und auch im Westjordanland ist immer wieder die Warnung vor einer dritten Intifada zu hören.

Das kann sehr gefährlich werden, wenn die ersten Häftlinge sterben", sagt Sahar Frances, die Direktorin der palästinensischen Gefangenen-Hilfsorganisation Addameer. Auf ihrem Schreibtisch türmen sich die Papiere, auf der Fensterbank steht noch ein künstlicher Weihnachtsbaum. Die Hoffnung auf eine Lösung im derzeitigen Konflikt hat sie noch nicht verloren - vielmehr sieht sie Anzeichen dafür, dass die Israelis sich bewegen. Sie weiß von einem geheimen Treffen zwischen einer Delegation der Häftlinge und der israelischen Gefängnis-Aufsicht. "Ich bin sicher, diesmal werden wir etwas erreichen", glaubt sie. Vor dem Protestzelt in Ramallah aber sitzt Asis Mahmud Halahleh und kann nur hoffen, dass eine Lösung noch rechtzeitig kommt für seinen Sohn, der seit 73 Tagen hungert.

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Quelle:
SZ vom 12.05.2012/beitz
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