Gefährliches Russland:Virus der Freiheit

Nemzow-Tochter besucht Stasi-Gefängnis

Schanna Nemzowa wurde 1984 in Gorki (heute Nischni Nowgorod) geboren. Nach dem Management-Studium in Moskau arbeitete sie bis vor Kurzem beim Wirtschaftssender RBK-TV.

(Foto: Bernd Von Jutrczenka/dpa)

Wer sich weigert, schweigender Komplize des Regimes zu werden, wird automatisch zum Gegner. Boris Nemzow hat diese schwierige Entscheidung getroffen. Sein Tod stellt auch seine Tochter vor die Wahl: schweigen oder sprechen?

Gastbeitrag von Schanna Nemzowa

In Diktaturen erwarten die Machthaber, dass man nicht nur keinen Widerstand gegen sie leistet, sondern dass man das, was sie zu verantworten haben, auch noch gutheißt. Dass man sich also indirekt an den Schweinereien beteiligt. Da Nein zu sagen ist weniger eine politische als eine moralische Frage. Wer sich weigert, schweigender Komplize zu werden, wird automatisch zum Regimegegner - sogar wenn man physische Gewalt gegen dieses Regime ablehnt. Diese Weigerung beschert einem unvermeidlich Probleme, das Leben wird ungemütlich.

Einige Menschen können trotzdem nicht anders. Diese schwierige Wahl trafen einst der sowjetische Dissident Andrej Sacharow, der tschechische Menschenrechtler Václav Havel, der polnische Priester Jerzy Popiełuszko.

Diese Wahl traf auch mein Vater. Dass Abgeordnete des Europäischen Parlaments ihn nun posthum für den Sacharow-Preis nominieren wollen, ehrt mich als seine Tochter, aber es überrascht mich nicht.

Rockstars werden zu "Nationalverrätern"

Seit einigen Jahren verwandelt sich in Russland der relativ milde Autoritarismus der Nullerjahre in lupenreinen Totalitarismus. Seit der Annexion der Krim passiert das mit großer Geschwindigkeit. Jenseits der Politik zu leben, wird immer schwieriger. Viele stehen nun vor der Wahl: Entweder - oder. Entweder man versucht, so zu tun, als wäre gerade nichts los - ein Phänomen der kreativen Persönlichkeitsspaltung, das in Russland mittlerweile als ausgewogene, konstruktive Haltung gilt. Oder man bleibt sich selbst treu und nennt das, was los ist, beim Namen. Solche Menschen gelten in meiner Heimat neuerdings als Radikale. Die Rockstars Andrej Makarewitsch und Jurij Schewtschuk haben sich nie politisch betätigt, aber kaum hatten sie sich öffentlich geweigert, die Krim-Euphorie zu befeuern, kaum hatten sie gesagt, ganz banal, sie seien für den Frieden in der Ukraine, wurde gegen sie eine Hetzkampagne entfaltet. Über Nacht wurden sie zu "Nationalverrätern".

Menschen unterschiedlichster Berufe verlassen dieses Land. Der Wirtschaftsexperte Sergej Gurijew, ehemals Rektor der Moskauer Wirtschaftsschule und heute Professor an der Sorbonne, ging bereits 2013. Er war nie politisch aktiv gewesen, er geriet ins Visier der Justiz wegen eines Gutachtens im Fall Jukos. Sein Kollege Konstantin Sonin ist erst kürzlich in die USA ausgewandert - er wird Professor in Chicago. Für Journalisten stellt sich die Frage der moralischen Wahl noch akuter.

Die meisten Medien verbreiten eine aggressive, revanchistische Staatsideologie, die an Faschismus grenzt. Ein Journalist aber , der nicht seine Meinung zu dem ganzen Wahnsinn sagt, verletzt in meinen Augen seine berufliche Pflicht. Der Privatsender RBK, für den ich bis vor Kurzem gearbeitet habe, ist im strikten Sinne nicht Teil des putinschen Agitprop. Ich wurde nie gezwungen zu lügen. Aber Meinungsfreiheit würde ich das auch nicht nennen. Im vergangenen Jahr hat die Spannung innerhalb der Redaktion drastisch zugenommen. Die Kollegen haben sich in zwei Lager gespalten. Ich fand mich in der Minderheit wieder, weil ich mich über die Aggression gegen die Ukraine nicht freuen konnte.

2014 bot RBK meinem Vater eine Beitragsserie über seine Arbeit in Jaroslawl an, er war dort Abgeordneter des Regionalparlaments, 280 Kilometer nordöstlich von Moskau. Der Arbeitstitel der Serie lautete: "Der andere". Die einzige Bedingung: Kein Wort über Putin, nur lokale Probleme und Vorschläge, wie diese zu lösen seien. Vater sagte zu, aber nach der ersten Folge wurde die Serie eingestellt. Ich vermute, es hatte jemand von oben angerufen.

Sein Tod warf mich völlig aus der Bahn

Ich verabredete mich dann mit meinem Vater, erzählte ihm von meinen Ängsten. Ich war aufgelöst, hatte das Gefühl, dass unser Land an der Schwelle zu etwas Schrecklichem stand. Er war immer ein großer Optimist, er sagte, wie immer: Ne mohaj. Hab' keine Angst. Er war stolz, dass ich eine interessante Arbeit hatte und auch erfolgreich war, und ich dachte: Ich muss mich nun gedulden und vielleicht sogar mit einigem abfinden.

Sein Tod warf mich völlig aus der Bahn. Wieder stand ich, standen wir alle vor der Wahl: Schweigen oder sprechen? Mir hat Putins Regime alles genommen, denn Vater war alles. Nun musste ich über die politische Verantwortung sprechen, die Präsident Wladimir Putin für den Mord an meinem Vater trägt.

Noch vor der Beerdigung schütteten die staatlichen Sender kübelweise Dreck über ihn aus, es wurden die abartigsten Versionen des Mordes in Umlauf gebracht - eine "ukrainische Spur", eine "islamistische Spur". Das improvisierte Denkmal auf der Brücke, auf der mein Vater starb, wurde geschändet. Dann wurde einer seiner besten Freunde, der Journalist Wladimir Kara-Mursa, vergiftet. Ich sagte mir: Es reicht. Ich verließ RBK, weil ich mich nicht mehr an halboffizielle korporative Absprachen halten wollte: In der Redaktion und vor der Kamera kein Wort über Politik, draußen - ähm, okay, aber bitte vorsichtig.

Die Wahl, Komplize zu werden oder nicht, ist in Putins Russland mit ähnlichen Gefahren verbunden wie einst in der Sowjetunion. Der sowjetische Dissident Natan Scharanski, der Jahre im Gefängnis verbrachte, nannte seine Memoiren nach einem Zitat aus den Psalmen: "Ich fürchte nichts Übles". Die Weigerung, sich an den Untaten eines Staates zu beteiligen, setzt voraus, dass man seine Angst vor diesem Staat überwindet. Mein Vater war lange Teil der politischen Elite im postsowjetischen Russland, und er hätte sich der neuen Realität anpassen und eine glänzende Karriere unter Putin machen können. Das haben viele seiner ehemaligen Weggefährten getan. Mein Vater blieb sich treu.

Putin hat einen Impfstoff gegen die Freiheit

Leider treffen nur wenige die richtige Wahl, aber diese wenigen bilden die Kraft, die mit der Zeit eine Gesellschaft verändern kann. Scharanski schrieb seinerzeit, dass die Sowjets nicht von ungefähr davon ausgingen, dass sogar ein einziger ungebrochener Dissident zu einer Bedrohung für das System werden kann. So kam es dann auch: Jahrzehntelang hatten einzelne Dissidenten das Virus der Freiheit in sich getragen, und dann brach dieses Virus während der Perestrojka aus. Scharanski hoffte, der KGB würde nie einen "Impfstoff" dagegen finden.

Heute habe ich den Eindruck, dass Wladimir Putin, zumindest vorübergehend, einen Impfstoff gegen die Freiheit gefunden hat: Es ist dieser neue imperialistische Chauvinismus. Allzu viele Russen sind bereit, die eigene, vom Staat verursachte Armut zu vergessen und auf ihre konstitutionellen Rechte zu verzichten, wenn sie sich im Gegenzug an einem imaginären russischen Reich erfreuen dürfen.

Ein Grund zur Verzweiflung ist das trotzdem nicht. Der polnische Priester Jerzy Popiełuszko, der 1984 vom Staatssicherheitsdienst ermordet wurde, weil er die Solidarność unterstützte, hatte einen Leitsatz: "Besiege das Böse durch das Gute". Nach seinem Tod waren viele in Polen verzweifelt. Heute ist Popiełuszko dort ein Nationalheld, und das, wofür er kämpfte, Wirklichkeit. Ich bin zuversichtlich, dass es in Russland nicht anders kommen wird.

Die Autorin ist Journalistin und die älteste Tochter des im Februar ermordeten Politikers Boris Nemzow. Aus dem Russischen von Tim Neshitov

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