Süddeutsche Zeitung

Geestland:Der codierte Flüchtling

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Der Bund hat es bisher nicht geschafft, eine Ausweiskarte für Asylbewerber und eine Datenbank einzuführen. Eine Gemeinde in Niedersachsen aber weiß, wie das funktionieren kann.

Von Stefan Braun, Berlin

Geestland ist ein schöner kleiner Flecken Erde. Es liegt nördlich von Bremerhaven und hat knapp 31 000 Einwohner. Sein Bürgermeister wirbt damit, dass die Gemeinde die zweitgrößte Flächengemeinde sei in ganz Niedersachsen. Das klingt schön und ein bisschen wichtig. Aber es wäre kein Grund, um der Gemeinde größere Aufmerksamkeit zu widmen. Doch Geestland wird bald haben, was dem Rest der Republik noch fehlt: eine Flüchtlingskarte.

Hervorgegangen ist die Idee aus einer elektronischen Gesundheitskarte, mit der die kleine Gemeinde früh versuchte, die medizinische Versorgung von Hunderten Flüchtlingen möglichst unbürokratisch zu organisieren. Am Anfang wurde darauf nur das Allerwichtigste gespeichert, dazu gehörten die Blutgruppe und mögliche Unverträglichkeiten, sollte der Flüchtling akut in Not geraten. Inzwischen wollen die Geestlander mehr Daten sammeln. Name, Alter, Herkunft, Ausbildung, Familienstand, Asylantragstellung, auch Fingerabdrücke - es gibt viele Informationen und großen Bedarf am Austausch.

Dabei sollen die Daten nicht auf der Karte selbst gespeichert werden. Sie sollen in einer elektronischen Datenbank landen. Die Karte selbst, Scheckkarten-groß, trägt einen Code und eine Pin, mit denen die Flüchtlinge und die verschiedenen Behörden künftig den Zugang zur Datenbank erhalten. Das gilt für Ärzte wie für die Ausländerbehörde, es gilt für das Sozialamt oder die städtische Schule. Egal, welches Bedürfnis oder welche Pflicht ansteht - Informationsfluss und Verwaltungsaufwand sollen verkürzt werden.

Dass das datenschutzrechtliche Probleme auslösen kann, ist laut Bürgermeister Thorsten Krüger berücksichtigt worden. So soll jede Behörde durch eigene Codes nur Zugriff auf für sie relevante Daten erhalten. Alles andere, erklärt der Sozialdemokrat, soll für sie verborgen bleiben. Die Gemeinde hofft, damit alle Hindernisse zu beseitigen und mit der Karte sowohl die akute Aufnahme als auch die spätere Integration besser organisieren zu können.

Damit erinnert Geestland fast schon an jenes kleine gallische Dorf, das in rauer Umgebung seinen eigenen Weg geht. Doch die Lasten der Flüchtlingsaufnahme haben wenig zu tun mit einem fröhlichen, stets gut endenden Asterix-Bändchen. Viele Gemeinden, viele Verwaltungen leiden an den bürokratischen Hürden, die ihnen eine Aufnahme der Flüchtlinge so aufwendig machen. Umso bemerkenswerter ist es, dass der Bund etwas Vergleichbares bis heute nicht geschafft hat. Die Folge: Nach wie vor muss sich ein Flüchtling an vielen verschiedenen Stellen registrieren, erkennungsdienstlich speichern, gesundheitlich überprüfen lassen - und hat viele Dokumente mit sich herum zu tragen.

Bis ein Asylantrag gestellt ist, werden gleich drei Mal die Fingerabdrücke genommen

Doch nicht nur für ihn, auch für die Behörden erwachsen daraus noch immer Problem. Gleichzeitig gibt es bislang technische und rechtliche Hindernisse, die es unmöglich machten, die Daten eines Flüchtlings zwischen Polizei, Ausländerbehörde, Gesundheitsdienst oder auch Schulen auszutauschen. Im Juristendeutsch heißt es, es fehlten die Übermittlungs- und Abrufvorschriften; außerdem fehlt die Technik.

Ein Beispiel: Bis zu seinem Asylantrag muss ein Flüchtling gleich dreimal seine Fingerabdrücke abgeben. Das erste Mal bei der ersten Registrierung durch die Bundespolizei. Sie nimmt die Fingerabdrücke und schickt diese an das Bundeskriminalamt, um sie mit einer europäischen Datenbank zu vergleichen. Ist der Vergleich vorbei, müssen die Daten aber sofort vernichtet werden. Danach nimmt das Bundesamt für Flüchtlinge erneut Fingerabdrücke, insbesondere für den Asylantrag. Und wenn der Flüchtling in einer Kommune ankommt, nimmt in der Regel die dortige Ausländerbehörde noch einmal die Fingerabdrücke. Auch sie darf sie nicht von anderer Stelle entgegen nehmen.

Angesichts dieser Probleme, die immer mehr lokale Verwaltungen erzürnen, hat Berlin nun reagiert. Am vergangenen Donnerstag verständigten sich die Koalition und die Ministerpräsidenten darauf, einen Flüchtlingsausweis und eine dazugehörende Datenbank einzurichten. Damit, so wird es in der Regierung gelesen, besteht zum ersten Mal der gemeinsame politische Wille von Union, Sozialdemokraten und Grünen, bisherige Datenschutzbeschränkungen zu überdenken. Ob das kleine Geestland dabei Pate spielte, ist nicht überliefert. Als sehr sicher aber kann gelten, dass der Bund wie Geestland keine Speicherkarte, sondern einen Papierausweis anstrebt, wahrscheinlich mit Code und Pin. Alles andere, so heißt es, würde einfach viel zu lange dauern.

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Quelle:
SZ vom 12.11.2015
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