Gedenkkultur in Russland:"Putin will den Stalin-Anhängern nicht widersprechen"

Gedenkkultur in Russland: Stalin zu ehren ist nichts ungewöhnliches in Russland. Am 5. März 2018 erinnern Unterstützer der kommunistischen Partei auf dem roten Platz in Moskau an den Geburtstag des Diktators.

Stalin zu ehren ist nichts ungewöhnliches in Russland. Am 5. März 2018 erinnern Unterstützer der kommunistischen Partei auf dem roten Platz in Moskau an den Geburtstag des Diktators.

(Foto: Kirill Kudryavtsev/AFP)

Der russische Präsident lässt die Aufarbeitung stalinistischen Terrors nur so weit zu, wie sie ihm selbst dient, sagt der Moskauer Historiker Oleg Chlewnjuk. Er sieht die Gesellschaft in der Pflicht.

Interview von Clara Lipkowski

Mehrere Millionen starben in der Sowjetunion Diktator unter Josef Stalin. Vor allem in den 1920er und 1930 Jahren gab es groß angelegte Kampagnen gegen sowjetische Bauern und "Säuberungen" politischer Gegner. Menschen wurden verfolgt, deportiert oder gezielt ermordet. Die gesellschaftliche Aufarbeitung dieser Zeit kommt in Russland allerdings nicht voran. Einen Grund dafür sieht der Historiker und Mitarbeiter des Moskauer Staatsarchivs, Oleg Chlewniuk, in der Erinnerungspolitik des Präsidenten Wladimir Putin.

SZ: Der 30. Oktober ist in Russland seit 1991 ein Gedenktag für die Opfer politischer Unterdrückung. Es wird an die Opfer des stalinistischen Systems erinnert, die millionenfach zu Tode gekommen sind. Was bedeutet dieser Tag den Russen?

Oleg Chlewnjuk: Es ist kein gesetzlicher Feiertag, es wird normal gearbeitet. Zeitungen und das Fernsehen erwähnen ihn, aber für die meisten Russen bedeutet dieser Tag eigentlich nichts. Nur manche Familien gedenken an diesem Tag bewusst ihrer Verwandten, die von den Repressionen unter Stalin betroffen waren.

Zum Gedenken an die Opfer der Stalinzeit hat Wladimir Putin 2017 eine "Mauer der Trauer" in Moskau eingeweiht. Wie bewertenSie diesen Auftritt?

Eine offizielle Linie der Regierung, wie man mit diesem Thema umgeht, gibt es nicht. Putin hat erkannt, dass viele Menschen in Russland Stalin ablehnen, andere ihn aber verehren. Er versucht, beiden Seiten gerecht zu werden. 2017 war, wenn man so will, der 80. Jahrestag des "Großen Terrors": 1937 verstärkte Stalin die Verfolgung politischer Gegner. Für Putin war dieser Anlass im vergangenen Jahr eine gute Gelegenheit, sich mal wieder zu den Opfern zu äußern.

Menschenrechtsorganisationen kritisieren genau das: Der Opfer wird zwar gedacht, über die Täter aber schweigt die offizielle Erinnerungspolitik.

Täter nicht zu benennen ist Teil dieser politischen Haltung. Putin will den Stalin-Anhängern nicht widersprechen.

Stalin wird in größeren Teilen der Bevölkerung mittlerweile wieder bewundert, das zeigen Umfragen des Meinungsforschungsinstituts Lewada. Auch seine Verbrechen werden weniger kritisch gesehen.

Ein wichtiger Grund, warum Stalin positiv gesehen wird, ist der Sieg über Nazi-Deutschland. Viele Menschen finden auch, dass er mit dem Sozialismus die Gesellschaft vorangebracht habe. Aber die Aufarbeitung kommt auch deswegen nicht voran, weil man in Russland mit ganz alltäglichen Problemen beschäftigt ist. Dem geringem Durchschnittseinkommen zum Beispiel, der hohen Arbeitslosigkeit, schlechten Wohnbedingungen. Das, was in der Vergangenheit geschehen ist, erachten viele als nicht so wichtig.

Oleg Chlewnjuk

Von Oleg Chlewniuk ist 2015 das Buch "Stalin. Eine Biographie" auf Deutsch erschienen.

(Foto: Privat)

Es wurden allerdings auch wieder Stalin-Statuen aufgestellt, 2017 zum Beispiel auf der annektierten Krim. Man zeigt öffentlich, dass man den Diktator verehrt.

Die Regierung stellt solche Monumente nicht auf. Das machen regionale Initiativen von Stalin-Anhängern. Dahinter steht die Tradition von früher. Zu Stalins Zeiten hängte man überall Bilder von ihm auf, in Büros und Autos etwa. Seine Anhänger nutzen heute den Mythos, den es um Stalin gibt. Dieser Mythos schreibt ihm positive Eigenschaften zu und leugnet negative Folgen seiner Herrschaft - etwa Terror und Hungersnöte. Mit den Statuen wollen diese Leute auch die Putins Regierung kritisieren. Sie sind unzufrieden über das oligarchische und unfaire politische System.

Die Regierung könnte es verbieten, solche Statuen aufzustellen.

Das macht sie auch manchmal. Einige Statuen hat sie zerstören lassen. Sie greift ein, wenn Skandale drohen, etwa weil es Proteste gegen die Statuen gibt. Aber dass die Regierung das nicht immer tut, zeigt, dass sie bewusst keine einheitliche Linie verfolgt.

Organisationen, die zu den Verbrechen Stalins forschen, werden in Russland oft an ihrer Arbeit gehindert. Forscher der NGO "Memorial" sitzen im Gefängnis oder es wird gegen sie ermittelt. Menschenrechtler bezeichnen die Verfahren als politisch motiviert. Außerdem werden solche Organisationen, wenn sie Geld aus dem Ausland erhalten, als "ausländische Agenten" stigmatisiert.

Es stimmt, dass vielen Mitgliedern der Regierung nicht gefällt, was Memorial tut. Aber die Fälle, die Sie ansprechen, zeigen Konflikte zwischen Memorial und regionalen Regierungen, die Organisation kritisiert die dortigen Behörden. Memorial arbeitet trotz der "Agentenregistrierung" sehr aktiv. Die Gruppe veröffentlicht Bücher, veranstaltet Konferenzen und trägt viel zur Aufarbeitung bei. Daher halte ich diese Konfliktfälle für Ausnahmen. Ich denke, es ist auch nicht das politische Ziel Moskaus, solche Gruppen komplett zu unterdrücken, zumindest nicht jetzt. Insgesamt ist es so: Wir Forscher haben viele Möglichkeiten, Täter abzubilden: In unseren Publikationen zum Beispiel. Es gibt ein großes wissenschaftliches Projekt zwischen Russland, der Ukraine, den USA und Deutschland, zu genau diesem Thema. Wer Informationen über die Täter von damals sucht, hat es in Russland nicht mehr schwer, welche zu finden.

Was muss sich in Russland ändern, damit auch in der Gesellschaft offen und ehrlich über Stalin diskutiert werden kann?

Der beste Weg ist, Schritt für Schritt ein gesellschaftlich arbeitendes Netz aufzubauen. Kritisch zu diesem Thema zu publizieren, die Arbeit in Museen voranzutreiben und Studenten, insgesamt die jungen Generationen, entsprechend zu unterrichten. Ein solches Netz ist viel produktiver, als sich auf die offizielle politische Arbeit zu verlassen.

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