Europäisches Gedenkjahr 2015:Was uns Bismarck und Waterloo lehren

Europäisches Gedenkjahr 2015: Die Schlacht von Waterloo auf einem Gemälde von William Sadler (1782-1839): Franzosen, Deutsche und Engländer schießen schon lange nicht mehr aufeinander.

Die Schlacht von Waterloo auf einem Gemälde von William Sadler (1782-1839): Franzosen, Deutsche und Engländer schießen schon lange nicht mehr aufeinander.

(Foto: Quelle: Wikimedia commons)

Von Napoleon zum Euro: Das Gedenkjahr 2015 kann dazu beitragen, die Idee von Europa besser zu verstehen. Trotz Euro-Krise, Front National und EU-Müdigkeit ist der alte Kontinent in einem besseren Zustand als jemals zuvor.

Kommentar von Kurt Kister

Man weiß nicht so genau, ob Fernsehen, Presse, Radio und Buchverlage die Jahrestageritis auslösen oder ob sie sich nur an einen Trend hängen, der in der Gesellschaft wabert. Noch scheint kaum das Gedenkjahr 2014 vergangen zu sein, in dem dickleibige Bücher über den Ersten Weltkrieg reüssierten, da sieht man schon allenthalben das Konterfei des Reichskanzlers Otto von Bismarck, der am 1. April vor 200 Jahren geboren wurde.

Im Mai stehen 70 Jahre Kriegsende/Befreiung an, und im Juni wird es dann mit dem 200. Jahrestag der Schlacht von Waterloo Endzeit-napoleonisch. Die Leute, heißt es gern aus der Früher-war-alles-besser-Fraktion, interessieren sich nicht mehr für Geschichte. Unsinn, so viel populär verbreitete Geschichte wie heute war nie zuvor.

Ausgerechnet Gerhard Schröder wird zu Bismarck interviewt

Das ist gut, auch wenn mancher Bildungsbürger die Nase rümpft und der Populärhistorismus gelegentlich seltsame Blüten treibt. Da wird zum Beispiel ausgerechnet Gerhard Schröder zu Otto von Bismarck interviewt, wohl weil er ein Bild des Fürsten an die Wand gehängt hat. Aber vielleicht geht es ja nur darum, Machtmenschen über Machtpolitik räsonieren zu lassen. Der Altbundeskanzler aus Hannover weiß bestimmt, dass Bismarcks Preußen 1866 das Königreich Hannover annektierte, so wie Schröders Putin 2014 die Krim.

Übrigens können Bismarck und Waterloo für das Nachdenken über Europa interessante Ansätze bieten. Der selbsternannte Franzosenkaiser Napoleon war ein Europäer zumindest in jener Hinsicht, als dass er den Kontinent einigen wollte - einigen unter seiner Knute.

Eine Fülle von besiegten Nolens-volens-Alliierten wie Preußen oder Österreich sowie ein Strauß von Klientelstaaten, gerne auch unter der Herrschaft von Bonaparte-Verwandten, sollten das napoleonische Europa bilden. Der Kaiser warf nicht nur nieder, er renovierte auch. Sein Code civil, die napoleonische Form des Bürgerlichen Gesetzbuchs, galt in manchen Regionen Europas noch lange nach dem Ende der Franzosenzeit.

Zwar bedeutete Waterloo, die letzte Schlacht des von Elba Wiedergekehrten, die endgültige Austreibung des Kriegsherrn Napoleon. 1821 starb er, verbannt auf eine Insel am damaligen Ende der Welt. Und dennoch stand das gesamte 19. Jahrhundert unter Napoleons Stern und Unstern.

Europa, die Idee eines Gleichgewichts

Es war die Ära, in der Fürsten und Fürstenknechte ein System wiederherstellen wollten, das die Franzosen und Napoleon erst mit ihrer Revolution und dann mit ihrer europaweiten Expansion unwiederbringlich erschüttert hatten. Trotz der Sturheit eines Metternich und der Listen eines Talleyrand konnten weder der Wiener Kongress noch die bleiernen Jahre danach den Feudalismus alter Prägung wieder bleibend restaurieren.

Zu tief hatte sich der Nationalstaatsgedanke bereits eingefressen, der damals überwiegend progressiv, ja manchmal sogar umstürzlerisch war. Hie und da kam es sogar zu liberalen Revolutionen.

Bismarcks Preußen war erzreaktionär

Otto von Bismarck, der ein paar Monate vor der Schlacht von Waterloo geboren wurde, war ein feudalistisch gesinnter Nationalist, auch wenn seine Nation nicht die deutsche, sondern die preußische war. (Dieses Preußen übrigens ist heute tot. Es wurde im Ersten Weltkrieg schwer verwundet, fiel nach Hitlers Handschlag mit Hindenburg 1933 ins Koma und starb zwischen 1939 und 1947 einen langen Tod. Preußens Überreste verstreute dann jener sonderbare Staat namens DDR irgendwo in Sachsen.)

Bismarcks Preußendeutschland jedenfalls war nach seiner Konstituierung 1871 trotz Renten- und Sozialgesetzen im Innern erzreaktionär, aber nach außen wenig expansiv. Des Reichs-Ottos Idee von Europa war die des Gleichgewichts, nicht jene der deutschen Dominanz.

Zwar war das wilhelminische Kaiserreich am 18. Januar 1871 unter größtmöglicher Düpierung Frankreichs im Spiegelsaal von Versailles ausgerufen worden. Dass dies ausgerechnet nach der totalen Niederlage eines weiteren Franzosen-Kaisers geschah, der sich Napoleon III. nannte, mag man auch als abermalige, späte Rache der Preußen am echten Napoleon interpretieren.

Träume von einem preußischen Europa aber hegten die Bismarckianer danach nicht. Im Gegenteil, man versuchte stets so zu agieren, dass sich nicht einmal zwei der größeren Staaten Europas zu einer Koalition gegen das Reich fanden. Bismarcks Diplomatie zielte weniger auf Bündnisse ab als vielmehr auf die Verhinderung von Bündnissen gegen Deutschland.

Bluttriefende Wiederkehr einer deutschen Farce

"Europa" war diesem zweiten deutschen Reich in erster Linie ein geografischer Begriff; in Europa durften keine Allianzen gegen das Reich entstehen. Solange der erste Wilhelm regierte, funktionierte Bismarcks Realpolitik. Der zweite Wilhelm und seine Pickelhauben-Korona machten auch dies zunichte.

Bis zu einem gewissen Grad erlebte das napoleonische, usurpatorische Europa eine bluttriefende Wiederkehr in Form jener deutschen Farce, als das Hakenkreuz von der Bretagne bis an den Kaukasus flatterte. Dies war die schrecklichste Form des Ausgreifens des diktatorischen Nationalstaats auf ganz Europa. Auch weil das alles nicht vor 200, sondern erst vor 70 Jahren zu Ende ging, ist es nicht verwunderlich, dass sich auch heute noch mit der Angst vor einem deutschen Europa Politik machen lässt - im Süden wie im Osten.

Der alte Kontinent ist in einem besseren Zustand denn je

Als Deutscher mag man gerade im Bismarck- und Waterloo-Jahr daran denken, dass die Politik in Europa im gesamten 19. Jahrhundert von der kurzen Ära zwischen Napoleons Italienfeldzug und jenem 18. Juni 1815 bei Waterloo geprägt wurde. Das 20. Jahrhundert wiederum stand nach dem deutschen Versuch der Unterjochung Europas ganz im Zeichen des "Nie wieder".

Über Bismarck werden sich in diesen Tagen und Wochen außerhalb Deutschlands und vielleicht Frankreichs nicht sehr viele Leute Gedanken machen. Über Waterloo einerseits und noch viel mehr über den 8. Mai 1945 andererseits aber redet die Welt, jedenfalls ein erheblicher Teil von ihr. Schon der Streit über die politsymbolisch sehr bedeutsame Art dieser Maifeiern in Moskau oder Tokio beweist, wie lebendig das 20. Jahrhundert heute noch (oder wieder) ist.

Wenn das Gedenkjahr 2015, und sei es mit etwas Jahrestageritis, aber auch dazu beiträgt, die Idee von Europa besser zu verstehen, ist das wunderbar. Trotz Euro-Krise, Front National und EU-Müdigkeit ist der alte Kontinent in einem besseren, friedlicheren Zustand als jemals zuvor.

Franzosen, Deutsche und Engländer schießen schon lange nicht mehr aufeinander. Und zur gegenseitigen Rettung brauchen Europas Staaten vielleicht die EZB, aber nicht mehr die Nacht oder gar die Preußen wie damals bei Waterloo.

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