Süddeutsche Zeitung

Gedenkjahr 1979:Die Zeitenwende

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China orientiert sich nach Westen, der Nato-Doppelbeschluss spaltet die Supermächte und Ajatollah Chomeini ist der Mann des Jahres: Mit 1979 erwartet die Welt ein weiteres Gedenkjahr.

Claus Leggewie

Deutschland bereitet sich auf ein gewichtiges Gedenkjahr vor: Anfang und Ende der alten Bundesrepublik und DDR sind zu begehen. Anfang und Ende der beiden deutschen Staaten markieren die Periode des Ost-West-Konflikts.

Es war jedoch das Jahr 1979, in dem die multipolare Welt von heute Kontur gewann. Die beiden Großmächte gaben noch ein Jahrzehnt länger den Ton an, auch schienen sich nach dem Fall der Mauer die Vereinigten Staaten als einzige Supermacht etablieren zu können. Aber die Ausrufung der Islamischen Revolution im Januar 1979 und die zum Scheitern verurteilte Afghanistan-Invasion im Dezember 1979 deuten schon das Ende ihrer Vorherrschaft an. Von Süden betrachtet, war bereits 1979 das annus mirabilis, die Zeitenwende.

Viel geschah damals: Zu Neujahr nehmen die Volksrepublik China und die Vereinigten Staaten endgültig diplomatische Beziehungen auf, Präsident Deng Xiaoping fliegt nach Washington und beendet die lange Todfeindschaft mit den USA. Die Volksrepublik geht auf Weltmachtkurs, den es bis heute fährt - ohne Demokratie, mit der der KP-Chef 1979 ein wenig geliebäugelt hat.

Im März schließen Ägypten und Israel unter Schirmherrschaft Jimmy Carters in Washington Frieden. Premier Menachem Begin und Präsident Anwar al-Sadat, die sich bald darauf auch in Kairo die Hand schütteln, besiegeln ein Zweckbündnis, das heute gegen Hamas gerichtet ist, gegen den Ableger der ägyptischen Moslembruderschaften, seinerzeit der radikalste Flügel des sunnitischen Islam.

Moslembrüder und demobilisierte Afghanistan-Kämpfer ziehen bis nach Algerien, wo sie den bis heute nicht befriedeten Bürgerkrieg religiös aufladen. Diese Anfänge des Islamismus (und das Ende des Drittwelt-Sozialismus) konnte man seinerzeit auch in Algier mitverfolgen, noch verkleidet als Aufstand der Arabophonen gegen die Privilegien der an Frankreich orientierten Staatsklasse.

Ayatollah Chomeini ist der Mann des Jahres, der viele blendet und fasziniert, als Reza Pahlewi, der Schah von Persien, abtreten muss. Im Februar triumphal aus dem französischen Exil nach Iran zurückgekehrt, ruft der schiitische Geistliche am 1. April die Islamische Republik aus, die sich als zäheste Herausforderung beider Großmächte erweisen sollte. Deren Koexistenz wird im Salt-II-Abkommen im Juni 1979 noch einmal bekräftigt; die Strategic Arms Limitation Talks reduzieren die Zahl der Interkontinentalraketen. Die Supermächte hocken weiter auf einem Overkill an Sprengköpfen, aber der atomare Schrecken ist durch Dauerverhandlung rationalisiert und wirksam monopolisiert.

Erblühen der Religionen

Die Ratifizierung des Abkommens scheitert im amerikanischen Kongress am Einmarsch der Russen in Afghanistan. Ende des Jahres folgt der Nato-Doppelbeschluss über die Mittelstreckenraketen in Europa. Der bringt den USA und der Sowjetunion offene oder verkappte Dissidenten in ihren Blöcken ein und gestaltet die bilateralen Beziehungen wieder frostiger.

Besonders die Bevölkerungen der beiden deutschen Staaten nehmen jetzt eine Art innere Kündigung bei ihren Schutzmächten vor. Es beginnt die deutsche Wiedervereinigung, auch wenn drei Viertel der Westdeutschen noch überzeugt sind, dass sie die selbst nicht mehr erleben werden.

Europa wächst unterdessen zwischen den Blöcken und über sie hinaus, allerdings auf die übliche Weise eines ökonomischen, die Bürger wenig bewegenden Institutionalismus. An der ersten echten Wahl zum Europäischen Parlament im Juni bleiben Beteiligung und Interesse schwach. Damals gilt noch: Hast du einen Opa, schick ihn nach Europa.

Doch im März starten Deutsche und Franzosen das Europäische Währungssystem EWS, ein System fester, aber flexibler Wechselkurse. Es füllt das Vakuum, das nach dem Ende des Systems von Bretton Woods entstanden ist, und bewirkt eine supranationale Harmonisierung, die zur Euro-Zone führt. Auch in Wirtschaft und Handel war nun die Hegemonie der Dollarökonomie gebrochen, die US-Wirtschaft, voran der Leitsektor Automobilindustrie in Detroit, schleppt sich von Krise zu Krise und kann die Weltwirtschaft nicht mehr auf Schwung bringen.

Auf der nächsten Seite: Konjunkturkrise, die grüne Anti-Partei und das symbolische Ereignis des 1979

Zur Konjunkturkrise kommt im Juni mit dem zweiten Ölschock (und einem historisch hohen Benzinpreis von einer Deutschen Mark pro Liter) die Energiekrise, das OPEC-Kartell stellt seine Funktionsfähigkeit unter Beweis. Die Konsequenz: Nuklearstrom wird die gesuchte Alternative, auch wenn die Vereinigten Staaten im März in Harrisburg knapp an einer Katastrophe vorbeischrammen und die Sowjetunion gewiss mehrere Beinahe-Havarien vom Tschernobyl-Typ überstanden hat.

Was heute kaum noch jemand weiß: Im Februar beruft die World Meteorological Organization in Genf die erste Welt-Klima-Konferenz ein. Beunruhigende Veränderungen des Klimas sind bereits erkennbar - eine ganze politische Generation lang könnten wir Bescheid wissen und Vorkehrungen getroffen haben, aber schon damals lenken Autokrise und Schneechaos vom Wesentlichen ab.

Das Bewusstsein der Endlichkeit der fossilen Zivilisation, das der Bericht des Club of Rome über die "Grenzen des Wachstums" zu Beginn des Jahrzehnts schaffen wollte, verbreitet sich nicht. China, Indien, Brasilien und andere Tigerstaaten, damals noch an der Schwelle, folgen dem Skript der karbonen Wirtschaftsgeschichte Europas, Amerikas und Russlands, ohne die Kehrseiten zu sehen.

Fürchtet euch nicht vor Amerika

Erkannt werden sie von Postmaterialisten im reichen Norden, die aus dem Status verlachter Waldschrate heraustreten. Im Lauf des Jahres 1979 formen ernüchterte Linksradikale und konservative Schöpfungsbewahrer die grüne Anti-Partei, die im Oktober gleich ins Parlament von Bremen einzieht, vor allem aber in Gorleben und Bonn gegen die Atomkraft zu Felde zieht. Nimmt man die kommenden Proteste gegen den Nachrüstungsbeschluss hinzu, wächst nicht nur in Westdeutschland die größte außerparlamentarische Kohorte seit langem.

Die Grünen sind in Europa die einzig flächendeckende Parteigründung seit der Restauration der parlamentarischen Systeme nach 1945, die ökologische Wende schaffen sie aber nicht. Sie bringen vielmehr die europäische Sozialdemokratie in eine Krise, von der sie sich nirgendwo wirklich erholen wird - und damit, da die Neulinge allein auf Rot-Grün setzen, fast überall die Neokonservativen ans Ruder. Eine lange Ära des Interessenausgleichs zwischen Kapital und Arbeit geht zu Ende, auch eine sozialdemokratische Illusion politischer Planung und Staatsintervention.

Radikalste Verfechterin des Klassenkampfs von oben wird Margret Thatcher, die im Mai als Prime Minister in die Downing Street Nummer 10 einzieht. Von ihr stammt die militante, gegen Gewerkschaften und Wohlfahrtsstaat zielende Formel "There is no Alternative", ein großflächiges Programm der neoliberalen Deregulierung.

Der Staat ist nicht die Lösung, sondern das Problem

In Kalifornien schickt sich 1979 ein Ex-Gouverneur namens Ronald Reagan an, den durch die Iran-Krise in Bedrängnis geratenen Jimmy Carter zu beerben. Der Exponent des rechten Flügels der Republikaner ist ebenfalls der Meinung, der Staat sei nicht die Lösung, sondern das Problem.

Unter anderem weil der Kapitalismus seit den Siebziger Jahren ungleicher, ungerechter und exklusiver geworden ist und weil Amerika in vielen Ländern des Südens kaum mehr Strahlkraft besitzt als die späte Sowjetunion, erblühen weltweit politische Religionen und religiöser Fundamentalismus. Das symbolische Ereignis des Jahres 1979 ist deswegen die Demütigung der Supermacht bei der Besetzung ihrer Botschaft in Teheran und die gescheiterte Befreiung der Geiseln.

"Fürchtet euch nicht, Amerika ist zu nichts fähig", predigt Chomeini, auch die Sowjetunion nennt er eine teuflische Macht, die sich im afghanischen Guerillakrieg ruinieren wird. Die islamische Republik hat die Intifada und den palästinensischen Regionalkrieg internationalisiert, sie tritt in den Club der Atommächte ein.

Zum Jahrestag der Islamischen Revolution gibt Chomeini die Parole aus: "Wir müssen uns alle erheben, den Staat Israel auflösen und das Volk Palästinas an seine Stelle setzen".

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SZ vom 21.01.2009/cag
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