Gedenkgottesdienst in Notre-Dame:Marseillaise gegen die Barbarei

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Erzbischof André Vingt-Trois während seiner Predigt in Notre-Dame (Foto: AP)

Unter hohen Sicherheitsvorkehrungen gedenken die Bürger von Paris mit einem Gottesdienst in der Kathedrale Notre-Dame der Opfer der Anschläge. "Wie kann unser freies Leben eine derart barbarische Reaktion hervorrufen", fragt der Erzbischof in seiner Predigt.

Von Oliver Klasen, Paris

Es sind Klänge, die man sehr selten hört von einer Kirchenorgel. Doch gegen 19.30 Uhr, kurz vor der Gabenbereitung, spielt der Organist während des Gedenkgottesdienstes in der Kathedrale Notre-Dame in Paris die Töne der Marseillaise an.

Einige Kirchenbesucher in den vorderen Reihen haben Fähnchen in den Farben der Tricolore dabei, die sie währenddessen schwenken. Die französische Nationalhymne entfaltet in diesen Tagen des Terrors eine ungeheure Kraft, sie stellt sich gegen die Barbarei, sie erinnert an gemeinsame Werte, sie integriert, sie wärmt - viel stärker als das "Einigkeit und Recht und Freiheit" auch angesichts der größten Katastrophe je könnte. Die deutsche Hymne entfaltet ihre Wirkung bestenfalls am Rande eines fußballerischen Sommermärchens und warm war es damals im Jahr 2006 auch ohne Hymne.

Die Marseillaise hingegen singen nicht nur die Abgeordneten der französischen Nationalversammlung am Tag nach den Anschlägen, bei denen mindestens 129 Menschen getötet wurden. Auch die Menschen, die nach den Explosionen nahe des Stade de France durch einen Fußgängertunnel flüchteten, haben sie angestimmt, als Mittel gegen die Panik. Jetzt wollen gar englische Fußballfans den Text auswendig lernen und beim Freundschaftsspiel gegen Frankreich im Wembley-Stadion in London am Dienstag gemeinsam mit den Franzosen anstimmen.

In der Messe in Notre-Dame ist der Geist der Marseillaise die ganze Zeit über spürbar. Eine der Säulen direkt recht neben dem Altar wird von einem Scheinwerfer in den Farben der Tricolore angestrahlt.

Sehr, sehr viele Menschen warten draußen noch auf Einlass, als die Messe um halb sieben Uhr abends beginnt. (Foto: Getty Images)

André Vingt-Trois, der Erzbischof von Paris, spricht von der "Solidarität", die diese Stadt nach dem "schwarzen Freitag" entwickeln müsse. Man versammle sich, um für die Opfer der Anschläge zu beten und ihre Angehörigen zu zeigen, dass sie nicht alleine seien.

"Das ist nicht der Islam"

Vingt-Trois richtet sich in seiner Predigt auch an diejenigen, die nicht dem christlichen Glauben angehören: "Diese Ereignisse sind nicht von der islamischen Gemeinschaft in unserem Land gedeckt. Das ist nicht der Islam", sagt der Erzbischof und umschreibt dann zwei Fragen, die sich die Nation jetzt stellen müsse: "Wie kann unser freies Leben eine derart barbarische Reaktion hervorrufen?" und "Wie können sich junge Menschen, die in unseren Schulen ausgebildet wurden, von den Ideen dieses Kalifats angezogen fühlen?"

Der Gedenkgottesdienst findet unter hohen Sicherheitsvorkehrungen statt. Schon zwei Stunden vor der Messe bilden sich vor den Absperrungen auf dem Platz vor der Kathedrale lange Schlangen.

Mit Maschinenpistolen bewaffnete Polizisten sind rund um die Kathedrale postiert. Eingelassen werden die Teilnehmer nur in kleinen Gruppen. Alle Taschen und Rucksäcke werden genau kontrolliert. Sicherheitskräfte sorgen auch im Inneren der Kathedrale für Ordnung, geleiten ältere, gebrechliche Menschen zu freien Sitzen und weisen Journalisten ihre Plätze zu. Sehr, sehr viele Menschen warten draußen noch auf Einlass, als die Messe um halb sieben Uhr abends beginnt.

Gottvertrauen und Panik

Zahlreiche ranghohe Politiker sind anwesend. Gekommen sind etwa 20 Abgeordnete der Nationalversammlung, außerdem die Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo, der frühere Premierminister François Fillon und der 89-jährige ehemalige Präsident Valery Giscard d'Estaing, der von 1974 bis 1981 amtierte, und gemeinsam mit dem Anfang der Woche verstorbenen Helmut Schmidt einst das Europäische Währungssystem auf den Weg brachte und damit den Grundstein für den Euro legte.

Der frühere französische Präsident Valéry Giscard d'Estaing vor Beginn der Gedenkmesse. (Foto: REUTERS)

Während Kardinal Vingt-Trois noch predigt und davon spricht, dass man Vertrauen haben müsse, in Gott, "der an die Tür klopft und uns an das Leben erinnert", da kommt die Meldung von einer Panik auf der Place de la République. "Ils tirent, courez!" - "Sie schießen, rennt!" soll jemand gerufen haben - und dann rennen Hunderte Menschen wild durcheinander.

Sie stürzen übereinander, sie flüchten sich in großer Angst in nahe Cafés, Restaurants und Supermärkte. Nach wenigen Minuten stellt sich heraus, dass es wohl ein Fehlalarm war, ausgelöst durch einen Feuerwerkskörper.

In der Kathedrale Notre-Dame erklingt die Marseillaise und sie beschwören die Freiheit. Doch es ist verdammt schwer in diesen Tagen, sich zu vergewissern, dass diese Freiheit tatsächlich siegen wird.

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