Süddeutsche Zeitung

Gedenken:Im Irrgarten der Erinnerung

Dan Diner hat seinen Essay ins Arabische übersetzen lassen. Doch der Text hätte eine Aktualisierung nötig.

Von René Schlott

Der 75. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges hat wieder einmal gezeigt, wie unterschiedlich die Erinnerung dieses globalen Ereignisses und seine politische Indienstnahme in Nord und Süd, in Ost und West ausfallen. Schon das Datum selbst ist stets ein Politikum. Während die westlichen Alliierten des Kriegsendes am 8. Mai gedenken, hat Russland als einer der Nachfolgestaaten der Sowjetunion einen Tag später den Sieg über den Hitlerfaschismus gefeiert - diesmal wegen der Corona-Krise wie fast überall unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Andere ehemalige Sowjetrepubliken wie Lettland dagegen haben sich für den 8. Mai entschieden, wenngleich die große russische Minderheit des Landes einen Tag später gedenkt.

Als "gegenläufige Gedächtnisse" bezeichnet Dan Diner, langjähriger Direktor des Leipziger Simon-Dubnow-Instituts, das konkurrierende Gedenken. In seinem 2007 erstmals erschienenen und jetzt wiederaufgelegten Essay fügt er der nach wie vor dominierenden transatlantischen Perspektive eine koloniale Sicht hinzu, wenn er an das am 8. Mai 1945 von französischen Kolonialtruppen begangene Massaker an arabischen Muslimen im algerischen Sétif erinnert, dem mehrere Tausend Menschen zum Opfer gefallen sind. Mit General Jean de Lattre de Tassigny, Teilnehmer des Rif-Krieges 1924/25 in Marokko, ist zudem ein früherer Kolonialkrieger als französischer Vertreter am 8. Mai 1945 bei der Kapitulationsunterzeichnung in Berlin-Karlshorst vor Ort.

Doch so interessant Diners Vorhaben, den Judenmord mit den europäischen Kolonialverbrechen in Beziehung zu setzen, ist, so problematisch geraten seine Schlussfolgerungen. Ein ins Pseudoreligiöse abgleitender Satz wie der folgende zeigt das überdeutlich: "Während sich die Aufklärung an die Stelle Gottes setzte und ihrerseits durch den Holocaust widerlegt wird, nimmt dieser mit der Annullierung des Glaubens an die Aufklärung jene Stelle ein, die vormals Gott vorbehalten war."

Der Text aus dem Jahr 2007 wurde übersetzt. Doch die Zielgruppe ist unklar

Egal, wie man der Methode der postkolonialen Historiografie gegenübersteht, ganz hinter sie zurückfallen sollte man nicht. Deshalb gehört schon einige Chuzpe dazu, einen solchen Text dreizehn Jahre nach seinem Ersterscheinen einfach unverändert wieder zu veröffentlichen. Die eigene eurozentrische Sprecherposition angesichts des verhandelten Gegenstands zu reflektieren, wäre das Mindeste an Aktualisierung gewesen, das Diner und der Verlag dem Essay hätten angedeihen lassen sollen. So taugt der Text heute allenfalls als Ausdruck einer überholten Geschichtsschreibung. Denn aus dem "Niemandsland des Verstehens" (so Diner in einem seiner früheren Werke) hat sich der Holocaust mit Peter Hayes und anderen längst verabschiedet.

Seine Sakralisierung versperrt den Zugang zur Erkenntnis. Er ist ein von Menschen begangenes Jahrhundertverbrechen, er lässt sich, wenn auch unter höchsten Schwierigkeiten, mit der menschlichen Erfahrung erklären. Das Geschehen nicht zu verklären, es aber zu erklären, bedeutet nicht, es zu verharmlosen. Verharmlosend sind vielmehr Sätze, in denen koloniale Gewalt mit einer "unsichtbaren Hand" erklärt werden und die sich von der Genoziddefinition eines Raphael Lemkin uninformiert zeigen: "Mittels der unterschiedslosen Gewalt wird sie genozidalen Charakter annehmen. Dies ist nicht ihre Absicht jedenfalls von Anfang an. (...) Aber wie von unsichtbarer Hand gelenkt, wird die Kolonialmacht dazu verleitet werden, unterschiedslos vorzugehen, Gewalt also ständig auszuweiten. (...) So wird die koloniale Gewalt zunehmend genozidal."

Der Essay von Diner, auf den das verdienstvolle Konzept von Auschwitz als Zivilisationsbruch zurückgeht, ist in einer zweisprachigen deutsch-arabischen Ausgabe wieder aufgelegt worden. Das Goethe-Institut Israel hat die Übersetzung ins Arabische gefördert. Doch der Sprachtransfer ist eher ein symbolischer Akt. Denn der Text ist schon in seinem deutschen Original so voraussetzungsreich und selbst für den geübten und mit dem Gegenstand vertrauten Leser nur mühsam zu verstehen. Die Übersetzung muss eine Tortur für Abed Azzam gewesen sein. Mangels Sprachkenntnissen konnte sich der Rezensent keinen Eindruck von der Qualität der Übertragung verschaffen. Unklar bleibt jedenfalls, wer die Zielgruppe für das zweisprachige Buch ist, in dem es von "Epistemen" und "Residuen" nur so wimmelt, ohne dass sich ein Erkenntnisgewinn so recht einzustellen vermag. Von Redundanzen und Allgemeinplätzen wie dem nachfolgenden einmal ganz abgesehen: "Dies legt die Vermutung nahe, dass der Zweite Weltkrieg erinnerungsgeschichtlich noch kein Ende gefunden hat."

Allzu oft erinnert der Text an ein Glasperlenspiel. Nicht alle Thesen leuchten unmittelbar ein. So geht Diner davon aus, dass der Holocaust erst mit dem Ende des Kalten Krieges zu einer universellen Chiffre geworden sei. Diese Entwicklung setzte jedoch von den USA ausgehend schon Mitte der 1970er-Jahre ein, als sich die US-amerikanische Gesellschaft angesichts der von ihren Landsleuten begangenen Massenverbrechen im Vietnamkrieg einer peinlichen Selbstbefragung aussetzte. Die weltweit bahnbrechende US-Serie "Holocaust" (1978/79) war nur Ausdruck dieses gewachsenen Interesses, nicht aber dessen Beginn.

René Schlott ist Zeithistoriker und Publizist.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4909781
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 18.05.2020
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.