Holocaust:Steinmeier erinnert an "abgründiges, grauenhaftes Geschehen"

Gedenkveranstaltung zur Deportationen jüdischer Mitbürger

Zeitzeugen legen am Mahnmal Gleis 17 in Berlin Blumen nieder.

(Foto: Annette Riedl/dpa)

Vor 80 Jahren wurden erstmals Juden aus Berlin mit der Bahn in den Osten deportiert. Bei der Gedenkveranstaltung am Bahnhof Berlin-Grunewald ruft der Bundespräsident die Deutschen von heute zum Widerspruch gegen antisemitisches Denken und Handeln auf.

Von Robert Probst

Es sind Stahlgussobjekte unmittelbar an der Bahnsteigkante. Die erste beginnt mit der Gravur "18.10.1941 1251 Berlin-Lodz", die letzte endet mit "27.3.1945 18 Berlin-Theresienstadt." 186 solcher Platten sind am Bahnhof Berlin-Grunewald, Gleis 17, angebracht, es ist das zentrale Mahnmal für die während der NS-Zeit aus Berlin deportierten Juden. Der erste Transport ging am 18.Oktober vor 80 Jahren Richtung Osten, 1251 Menschen wurden ins damalige Ghetto Litzmanstadt/Lodz im besetzten Polen gebracht. Und noch kurz vor Kriegsende wurden noch 18 Menschen ins KZ Theresienstadt deportiert. Zum Jahrestag erinnerte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier an dieses erbarmungslose und systematische Verschleppen und Töten von Juden, Sinti und Roma, ein "abgründiges, grauenhaftes Geschehen".

"Bahnhof Berlin-Grunewald, Gleis 17 - das hört sich doch so unscheinbar, so nebensächlich, so alltäglich und schnell wieder zu vergessen an. Und tatsächlich. Nur wer weiß, welche Geschichte sich hinter dieser verkehrstechnischen Ortsangabe verbirgt, welche Tragödien sich hier abgespielt haben am Gleis 17, Bahnhof Berlin-Grunewald, nur der weiß, wie keineswegs nebensächlich, sondern wie zentral dieser Ort war", sagte Steinmeier am Montag. Von hier aus, vom Bahnhof Grunewald, wie auch vom Anhalter Bahnhof oder vom Güterbahnhof Moabit, "begann - direkt oder auf einem Umweg - der Weg in die Vernichtung, der Weg in den Tod für die Juden Berlins."

Steinmeier erinnerte auch daran, dass sich die Verbrechen "sich vor aller Augen" ereigneten, "das Ausgrenzen und das Abholen geschah mitten im deutschen Alltag, das ist die grausame Wahrheit". Ebenso betonte er: "Viele haben mitgemacht, viele haben das Verbrechen bürokratisch exekutiert, viele haben davon auch profitiert. Das gilt auch für die Deutsche Reichsbahn."

Die Bahn schwieg lange zu dem Verbrechen

Dass man sich nach dem Holocaust und dem Zweiten Weltkrieg schwertat mit dem Gedenken, lässt sich gut an diesem Beispiel studieren. Am 8. November 1953 wurde die erste Erinnerungstafel von der Vereinigung der Verfolg­ten des Nazi-Regimes (VVN) angebracht. Bei der Enthüllung waren jedoch Reden von der Polizei ausdrücklich verboten worden, weil der VVN als kommunistische Gruppe galt, solchen Leuten wollte man mitten im Kalten Krieg keine Bühne bieten. Da aber nur "reden" verboten war, sang die Dichterin Lin Jaldati das jüdische Partisanenlied "Sog nischt kejnmol as du gejst dem letztn weg" ("Sage niemals, daß du den letzten Weg gehst").

Auch die Bahnverwaltungen in Ost- und Westdeutschland hielten es lang nicht für nötig, dieses Kapitel der deutschen Eisenbahngeschichte überhaupt zu erwähnen. Ein zentrales Mahnmal, das an die Opfer der Deportationen mit der Reichsbahn erinnerte, existierte in beiden deutschen Staaten nicht. Erst 1998 kam das Mahnmal im Grunewald zustande.

Der Bundespräsident richtete sein Augenmerk aber auch auf die Gegenwart: "Wir können in diesen Tagen der Vergangenheit nicht gedenken, ohne uns bewusst zu sein, dass unsere jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger immer wieder und immer stärker antisemitischen Hetzreden und antisemitischen Angriffen ausgesetzt sind." Und so endete der Gedenkakt in einem Appell: "Nie wieder dürfen antisemitisches Denken und Handeln ohne Widerspruch und öffentliche Reaktionen bleiben."

Mehr als 50 000 Berliner Jüdinnen und Juden wurden zwischen 1941 und 1945 Richtung Osten deportiert. Auch an anderen Orten im Reich begann vor 80 Jahren die systematische Verschleppung. Gleis 17 ist schon lang nicht mehr in Betrieb, nie wieder wird von dort ein Zug abfahren.

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Portrait Rachel Salamander

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