Gedenken an Reichspogromnacht:Grosser: Zehn Minuten über Israel

Lesezeit: 3 Min.

Der deutsch-französische Politologe Alfred Grosser wird in der Frankfurter Paulskirche zur Reichspogromnacht reden - und die jüdische Gemeinde droht mit einem Eklat.

S. Braun, M. Drobinski und M. Widmann

Ja, sagt Alfred Grosser, er werde das Thema ansprechen, trotz allem, "sonst würde ich mich ja entwürdigen". Also wird er in den letzten zehn Minuten seiner Rede an diesem Dienstag in der Frankfurter Paulskirche über Israel sprechen. Er wird Horst Köhler zitieren, der gesagt hat, eine Lehre aus dem Nationalsozialismus sei, dass man sich immer und überall für Freiheit, Menschenrechte und Gerechtigkeit einsetzen müsse. Und dann wird Alfred Grosser hinzufügen, dass das offenbar im Umgang mit den Palästinensern nicht gelte.

Der Politologe Alfred Grosser ist als scharfer Kritiker der israelischen Politik gegenüber den Palästinensern bekannt. So ein Mann sei als Redner auf der Gedenkfeier zum Jahrestag der Reichspogromnacht ungeeignet, so ein Mitglied des Zentralrats der Juden, das forderte, Grosser auszuladen. Fragt man den Politologen, ob er Hass gegen Israel schüre, sagt er: "Quatsch." (Foto: dpa)

An dieser Stelle könnte es zum Eklat kommen, könnten einige Besucher aufstehen und gehen. Es wäre nicht der erste in Frankfurt, nicht der erste an diesem Ort. In der Paulskirche hat schon Martin Walser 1998 von der "Moralkeule Auschwitz" gesprochen, Grosser war ihm danach beigesprungen. Deshalb hat Stephan Kramer, der Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland, nun gefordert, Grosser als Redner auszuladen. Vor allem aber, weil der 85-jährigen Politologe die israelische Politik kritisiert, hart wie kaum einer. Diese Politik "fördert den Antisemitismus" hat er schon gesagt. Seine Kritiker werfen ihm vor, Hass gegen Israel zu verbreiten.

"Das ist Quatsch", sagt Grosser, "Ich sage nicht ein Drittel dessen, was in Israel gesagt wird." Er klingt fröhlich am Tag vor seinem Auftritt, er lacht bisweilen. Belastet ihn die Kritik? "Sie disqualifiziert eher jene, die mich angreifen."

Vor 85 Jahren wurde Alfred Grosser in Frankfurt als Kind jüdischer Eltern geboren, sein Vater leitete ein Krankenhaus, das er wegen der "arischen Umstellung" verlassen musste. Die Familie floh 1933 nach Frankreich, wo der Vater starb und auch die Schwester; andere Familienmitglieder kamen in Auschwitz um. Es ist eine grausame Geschichte, und trotzdem wurde Grosser nach dem Krieg Vordenker und wortmächtiger Begleiter der deutsch-französischen Freundschaft. Als "bedeutenden Lehrer der Toleranz", lobte ihn einst Richard von Weizsäcker.

Und nun könnte es sein, dass bei seiner Rede die jüdischen Zuhörer den Saal verlassen. "Wenn es beleidigend wird, muss ich mir das nicht anhören", sagt Salomon Korn, Vorsitzender der jüdischen Gemeinde Frankfurts. "Wir wollen keinen Eklat", sagt Dieter Graumann, der designierte Präsident des Zentralrats. "Aber wenn er mit einer Tirade gegen Israel beginnt, gehen wir raus."

Der Frankfurter ist selbst ein leidenschaftlicher Redner, wird ebenfalls sprechen auf der Gedenkfeier zur Reichspogromnacht 1938, er wird für ein buntes, offenes, unverkniffenes Judentum werben. Was Grosser angeht, sagt Graumann, sei das Unbehagen bei vielen in seiner Gemeinde "eine Frage des Gefühls". Viele fühlten sich verletzt von Grossers Israelschelte, die in den vergangenen Jahren gekennzeichnet sei "von Extremismus". Grosser könne seine Meinungen ruhig vertreten. "Aber gerade der 9. November ist nicht der richtige Anlass."

Der 9. November, das ist einer der identitätsstiftenden Jahrestage der Juden in Deutschland; es ist der Tag, an dem ihre Synagogen brannten, an dem ihr bürgerliche Leben zerbrach und sie zum Freiwild wurden. Der 9. November ist aber auch ein Tag, an dem sich zunehmend zeigt, wie brüchig diese Identität geworden ist. Für die Mehrheit der russischen Zuwanderer ist dieser Novembertag kein besonderer Tag mehr - sie feiern den 9. Mai, den Tag, an dem die Wehrmacht vor der Roten Armee kapitulierte. Auch der Glaube hält die Gemeindemitglieder nicht mehr automatisch zusammen - das Wissen über die Religion ist bei vielen Zuwanderern gering geblieben, mancher Alteingesessene rümpft die Nase über die "Kulturjuden".

Bleibt also die Solidarität mit Israel. Sie gehört seit der Gründung 1950 zu den unhinterfragten Glaubenssätzen des Zentralrats, sie war die Antwort auf die polemische Frage der Zionisten, wie denn nach dem Holocaust überhaupt noch ein Jude in Deutschland leben konnte. Auch dieser Pfeiler der Identität ist brüchig geworden: Die Deutschen sehen die Israelis immer häufiger als Besatzer und Aggressoren, auch in den Gemeinden gibt es kleine, aber wachsende Gruppen, die Israels Politik für einen der Gründe halten, warum der Nahostkonflikt unlösbar bleibt. Mancher unsolidarische Deutsche, dazu eine kritische Minderheit in den eigenen Reihen: beides verletzt die Zentralratsmitglieder, die zunehmend gereizt und unsouverän auf Israel-Kritik reagieren.

Und dann kommt ausgerechnet Grosser zu den Ehren einer 9.November-Rede - der altbekannte Gegner aus dem altbekannten Konflikt. Da ist das Interview, das Grosser im Juni 2009 gab, in dem er die Kritiklosigkeit der Deutschen gegenüber Israel kritisierte. "Sobald einer die Stimme erhebt, heißt es sofort: Antisemitismus," sagte er, am schlimmsten sei dabei der Zentralrat der Juden. Und bei denen sei Graumann der Schlimmste.

Eines immerhin verbindet beide inzwischen: Graumann wie Grosser finden die Diskussion mittlerweile zu aufgeregt. "Es wird an sich ruhig verlaufen", hofft Grosser. Wenn seine Rede vorbei ist, will er in die Synagoge: "Mit allen."

© SZ vom 09.11.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: