Süddeutsche Zeitung

Gedenken an Opfer der Neonazi-Morde:Bleibt nur die Bitte um Entschuldigung

Sicherheitsvorkehrungen wie bei einem Staatsbesuch: Mitglieder von acht der zehn Familien, deren Angehörige dem Morden der Neonazis zum Opfer fielen, haben ihre Teilnahme an der Gedenkfeier zugesagt. Die Spitzen der deutschen Verfassungsorgane begehen heute einen Akt der Reue: Der Staat muss sich für die falschen Verdächtigungen und die psychischen Qualen entschuldigen, die die Familien erleiden mussten.

Susanne Höll, Berlin

Die weiß-roten Absperrgitter stehen schon rund um den Gendarmenmarkt in Berlin. An diesem Donnerstag darf an dem großen Platz im Zentrum der Hauptstadt kein Fahrrad abgestellt werden, geschweige denn ein Auto. Die Sicherheitsvorkehrungen sind so hoch wie bei einem wichtigen Staatsbesuch. Der Schutz gilt auch den Ehrengästen, die im Konzerthaus zu einem in der Geschichte der Bundesrepublik beispiellosen Staatsakt erwartet werden.

Mag sein, dass diese Ehrengäste sich wundern über den Aufwand, den die deutschen Sicherheitsbehörden dieser Tage betreiben. Denn mit der Polizei haben die allermeisten von ihnen über Jahre hinweg traumatische Erfahrungen gemacht. Als ihre Väter, Ehemänner und Kinder erschossen wurden, gerieten diese und sie selbst in den Verdacht, für die Morde mit verantwortlich zu sein. Drogengeschäfte, Schutzgelderpressung, all das vermuteten die Beamten als Motiv für die jahrelang rätselhafte Verbrechensserie an kleinen Gewerbetreibenden, deren Familien aus der Türkei und aus Griechenland stammten.

Inzwischen weiß man, dass eine Nazi-Gruppe die neun Männer und eine Frau, eine Polizistin, exekutierten: planmäßig, getrieben von Fremdenhass. Der deutsche Staat hat sich, wenn auch nicht mutwillig, schuldig gemacht, vor allem an zehn Familien. Viele von ihnen mussten erleben, wie sich Freunde und Bekannte nach dem Morden zurückzogen angesichts des hässlichen Verdachts verbrecherischer Komplizenschaft. Und indirekt an allen Migranten in Deutschland, die seit dem vergangenen November, als die Zwickauer Neonazi-Zelle aufflog, daran zweifeln, ob sie in Deutschland tatsächlich sicher leben können. Für sein Versagen muss der deutsche Staat um Verzeihung bitten, die Hinterbliebenen zuallererst. Die Gedenkfeier ist ein Staatsreue-Akt.

Verwandte von acht der zehn Familien haben die Einladung angenommen, manche nach langem Zögern, manche auch mit Bangen. Erst vor drei Monaten haben sie erfahren, wer tatsächlich für den Tod ihrer Angehörigen verantwortlich ist. Das hat den Schmerz, die Angst und die Verletzungen von damals wieder aufgewühlt, die Gedenkfeier im Konzerthaus wird es wieder tun.

Barbara John, die legendäre langjährige Berliner Integrationsbeauftragte, die im Winter zur Ombudsfrau für die Opferfamilien ernannt wurde, hat in den vergangenen Wochen viel vom Leid der Familien erfahren. Es gibt materielle Not, die es zu lindern gilt, größer aber sei oft die seelische Pein, sagt sie. Barbara John ist zu einer Art Sprecher der Opferfamilien geworden. Und in dieser Funktion ruft sie die deutsche Politik auf, die Familien zu rehabilitieren. "Die Bundeskanzlerin und alle anderen Vertreter des Staates müssen dafür sorgen, dass der schwer beschädigte Ruf und das Ansehen der Familien wiederhergestellt wird", verlangt John.

Aber damit allein sei es nicht getan. Die Angehörigen wollten so gut es eben gehe in die laufenden Ermittlungen der Strafverfolger gegen die Zwickauer Zelle eingebunden werden und zudem darüber berichten, wie quälend die Ermittlungen von einst für sie gewesen seien.

"Die Sicherheitsbehörden haben versagt"

John macht auch keinen Hehl aus ihrer Kritik an den Strafverfolgern. "Der Staat muss zugeben, dass die Sicherheitsbehörden insgesamt versagt haben." Sie fordert Konsequenzen. Deutschland solle sich ein Beispiel nehmen an Großbritannien, wo die Polizei bei jeder Gewalttat gegen Migranten dem Verdacht einer rassistisch motivierten Gewalttat nachgehen müssten.

Und dass die Gesellschaft dringend umdenken müsse, sagt sie auch. Neun der zehn Opfer hätten ihr Leben verloren, weil sie nicht in das Deutschen-Bild der Neonazis gepasst hätten. Aber auch rechtschaffene Bürger müssten erkennen: "Unser Land wird nie wieder so aussehen wie vor Jahrzehnten. Zuwanderer gehören zu unserem Land, so wie sie sind", sagt John. Und fügt hinzu: "Schluss mit ausgrenzenden Begriffen und Anpassungsbefehlen nach dem Motto: Integriert euch."

Barbara John ist Mitglied der CDU. Ihre Vorsitzende, Kanzlerin Angela Merkel, wird auf dem Gedenkakt sprechen. Sie muss einspringen; bis vergangenen Freitag war der Bundespräsident als Redner vorgesehen. Doch Christian Wulff ist nicht mehr im Amt. Merkel hatte die Mordserie sofort nach der Enttarnung der Zwickauer Zelle als "Schande" bezeichnet, hinter diesem starken Wort wird sie auch bei ihrer Rede nicht zurückbleiben können.

Auch zwei Familienangehörige kommen zu Wort, zwei Frauen, die sich einen gemeinsamen Auftritt gewünscht haben, weil sie sich dann bei diesem aus mancherlei Hinsicht schwierigen Akt ein wenig sicherer fühlen. Es sind Semiya Simsek, deren Vater Enver am 9. September 2000 in Nürnberg an seinem Blumenstand von neun Kugeln getroffen wurde. Er war das erste Opfer der Neonazis. Die zweite ist Gamze Kubasik, deren Vater Mehmet am 4. April 2006 in seinem Kiosk in Nürnberg erschossen wurde.

Der künftige Bundespräsident wird hinten sitzen

Die zwei werden vor 1200 Gästen reden, unter ihnen die Spitzen der deutschen Verfassungsorgane, Bundestagsabgeordnete, Ministerpräsidenten, Diplomaten, Politiker aus der Türkei, Vertreter von Migrantenorganisationen und Ehrenamtliche aus Initiativen, die sich gegen Fremdenhass und für Toleranz engagieren.

In einer der hinteren Reihen wird der künftige Bundespräsident Joachim Gauck sitzen, als Bürger, wie sein Sprecher ausdrücklich betont. Gauck habe bereits vor geraumer Zeit seine Teilnahme an der Veranstaltung zugesagt, längst bevor er wusste, dass sein Vorgänger Wulff, der die Idee für die Zeremonie gehabt und die Feier organisiert hatte, am Tag selbst nicht mehr im Amt sein würde.

Die Feier beginnt um 9.30 Uhr und soll eine gute Stunde dauern. Anschließend können alle Menschen in Deutschland ihrerseits gedenken. Gewerkschafter, Politiker und Kirchen haben dazu aufgerufen, dass Deutschland um Punkt 12 Uhr innehält, dass die Busse stoppen, der Schulunterricht unterbrochen und die Arbeit in den Unternehmen 60 Sekunden lang ruht. Als Zeichen dafür, dass Gewalt, Fremdenhass und Rechtsextremismus in Deutschland keinen Raum gewinnen dürfen. Für die Angehörigen der Toten könnte dieses Signal der Gesellschaft ähnlich bedeutend sein wie die Gedenkstunde des Staates zuvor.

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Quelle:
SZ vom 23.02.2012/mane/gba
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