Gedenken an die Shoah:"Passen Sie auf auf unser Land!"

Germany Commemorates The Holocaust On International Day of Commemoration

"Wer Judenhass an der Wurzel packen will, muss auch dort zugreifen, wo es wehtut", sagt Charlotte Knobloch, Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, im Bundestag.

(Foto: Sean Gallup/Getty)

Zum Jahrestag der Befreiung des KZ Auschwitz mahnt Charlotte Knobloch die Abgeordneten des Bundestags. Und die Holocaust-Überlebende sagt, wo sie die geistigen Nachfolger der Täter von damals sieht - auch unter ihren Zuhörern

Von Viktoria Spinrad, Berlin

Und dann weint sie, ganz kurz, ganz dezent. Sie, die ihre Geschichte schon so oft erzählt hat, als eine der wenigen, die es noch kann. Charlotte Knobloch, 88 Jahre, Sinnbild für das Gedenken an die Shoah, steht am Pult des Bundestages, schluckt kurz, dann spricht sie weiter. Darüber, wie sie erfuhr, dass ihre Familie ins Konzentrationslager nach Theresienstadt verschleppt wurde, als sie selbst gerade neun war. Wie sie zum letzten Mal ihre Großmutter sah und ihre Eltern sie zu einer Bekannten auf das Land nach Mittelfranken retteten, ein Leben zwischen Plumpsklo, körperlicher Arbeit und "unsagbarer Einsamkeit".

Es ist eine bemerkenswerte Rede, die die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München vor den Abgeordneten des Bundestags hält. Zum einen, weil es eine persönliche, emotionale Rede ist, die das Erlebte zum Greifen nahe macht. Zum anderen, weil Knobloch in dieser Zeit, in der Nationalismus und Antisemitismus auf dem Vormarsch sind, auch sehr konkret in ihren Mahnungen und Forderungen wird.

Zunächst aber übernimmt Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble die Rolle des Mahners. "Auch bei uns zeigen sich Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit wieder offen, hemmungslos, auch gewaltbereit", sagt er. Dass Juden ihre Kippa verstecken müssten, sei "beschämend."

Auch nach 76 Jahren sind ihre Erinnerungen noch aktuell

Es ist der Vorlauf für Knobloch, die ehemalige Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland und unermüdliche Warnerin. Sie spricht bedächtig und langsam. Man könnte die Stecknadel fallen hören im Plenarsaal. Sie spricht von ihrer hoch angesehen Großmutter, die sie die Grundlagen des jüdischen Glaubens lehrte. Von ihrem Vater, der sie die Liebe zu Deutschland lehrte. Darüber, wie ihre Mutter den Vater verließ, als Knobloch gerade vier Jahre alt war, gebeugt vom Druck, die die Ehe mit einem jüdischen Mann in der Nazizeit mit sich brachte. Und wie sie plötzlich nicht mehr mit den anderen Kindern spielen durfte. "Das war meine erste Begegnung mit dem Anderssein", sagt Knobloch, und es ist klar, dass dies nicht das Ende war: Ihre Großmutter wurde in Theresienstadt ermordet.

Es sind jahrzehntealte Erinnerungen, die doch aktuell sind. 76 Jahre nach der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz durch die Rote Armee hat der Antisemitismus wieder Hochkonjunktur, dank Corona. Da sind Menschen, die mit Davidsternen mit der Aufschrift "ungeimpft" herumlaufen. Da sind die, die "Maske macht frei"-Schilder hochhalten. Und andere, die behaupten, Zionisten hätten das Virus in israelischen Laboren hergestellt. Und nicht zu vergessen: Da sind natürlich auch der antisemitische Anschlag in Halle und der rechtsextreme Mord am flüchtlingsfreundlichen Kassler Regierungspräsidenten Walter Lübcke.

Marina Weisband spricht von Angst und Frust junger Juden in Deutschland

Entsprechend symbolbeladen ist auch der Auftritt von Marina Weisband. Die 33-Jährige Psychologin und Publizistin macht unter anderem Youtube-Videos, in denen sie das Judentum erklärt. Umso mehr wirkt ihr Auftritt neben Knobloch am Mittwoch wie eine bildliche Staffelübergabe: Die etablierte Mahnerin reicht die Verantwortung für das "Nie wieder" an die nächste Generation weiter.

Und so klopft und malt Weisband am Pult mit ihren Händen, als wolle sie allen klarmachen, dass es keinen Schlussstrich unter die Erinnerung an den Holocaust geben kann. Sie erzählt aber auch, mit wie viel Angst und Frust das moderne Leben als Jüdin in Deutschland belastet ist. Wie die Gemeinde Briefe ohne Absender verschicke. Wie sie wegen Sicherheitsbedenken keinen jüdischen Stammtisch in der Zeitung ankündigen durfte. Wie sie zum Beten an Männern mit Maschinengewehren vorbeigehen muss. "Wir dachten, wir können einfach nur Mensch sein", sagt sie über die Zeit, als sie mir ihrer Familie 1993 als Kontingentflüchtling von der Ukraine nach Deutschland zog. Sie formt ihre Finger zu Gänsefüßchen: "Ich lerne nun, dass einfach nur Mensch sein Arbeit bedeutet".

Klare Worte an die AfD - danach unterbricht sie spontaner Applaus

Es ist eine Arbeit, die Knobloch zur Genüge kennt. Seit Jahrzehnten setzt sie sich für das Gedenken an die Shoah ein. Und trotzdem überlegen Freunde und Bekannte von ihr nun auszuwandern. Manchmal scheint es eine Sisyphusarbeit zu sein. Doch das hält Knobloch nicht davon ab, klare Worte zu finden.

"Wer Judenhass an der Wurzel packen will muss auch dort zugreifen, wo es wehtut", sagt sie. Es dauert nicht lange, dann hebt sie die Hände, appelliert an die Abgeordneten: "Passen Sie auf auf unser Land!" Dann dreht sie den Kopf kurz zur Seite, dahin, wo die AfD-Fraktion sitzt. Vielleicht sei der eine oder andere ja bereit zu erkennen, an welche Tradition da angeknüpft werde. Dann spricht sie die AfD-Abgeordneten direkt an: "Sie haben Ihren Kampf vor 76 Jahren verloren." Knobloch will schon weitersprechen, doch ein spontaner Applaus der Parlamentarier unterbricht sie. Nur in den Reihen der AfD klatscht keiner.

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