Es war eine Gedenkstunde, in der viel von Trauer, Scham und Schande gesprochen wurde. Die Kanzlerin bat die Angehörigen der Opfer um Verzeihung. Sie fand gute Worte gegen die Gewalt und gegen ein Klima, das Gewalt erzeugt; sie warb für eine starke Zivilgesellschaft.
Was tut man als Journalist während einer solchen Rede? Man kann die Rednerin studieren und ihre Worte wägen. Man kann lauschen und prüfen, wie laut das Mea culpa des Staates klopft. Man kann den Blick schweifen lassen durch die Reihen der Repräsentanten von Staat und Gesellschaft und überlegen, wer von diesen Trauergästen das Morden hätte verhindern müssen. Man kann also ein bloßer Beobachter sein. Man kann aber auch der eigenen Beklemmung nachspüren, die Rührung fühlen und den Zorn, der einen packt. Man kann die Augen schließen beim Zuhören - und über die Bilder nachsinnen, die dieses Gedenken wachruft.
Die Bilder: Es sind zuvorderst die Bilder von zehn Opfern der braunen Terrorbande - Familienväter, neun Kleinunternehmer türkischer und griechischer Herkunft, eine Polizistin. Aber da sind noch mehr Bilder. Sie stammen aus der Zeit, in der sich die späteren Neonazi-Mörder radikalisiert haben: Es sind die Bilder aus Hoyerswerda, Mölln, Rostock und Solingen; Bilder aus so vielen deutschen Städten in den frühen neunziger Jahren, aus der Zeit also, in der Deutschland so leicht entflammbar war. In Hoyerswerda wurden damals die Ausländer aus der Stadt gejagt.
Fernsehreporter standen in einer johlenden Menge auf dem Marktplatz, irritiert und fassungslos, als sie Antworten bekamen wie diese: Der Terror "gegen die" müsse sein, "bis alle verjagt sind". In Mölln verbrannten bei einem Neonazi-Brandanschlag zwei türkische Mädchen und deren Großmutter. Noch während der Löscharbeiten gab es Selbstbezichtigungs-Anrufe bei der Polizei, die mit "Heil Hitler" endeten.
Die Gedenkrede: Die Kanzlerin spricht nun von den schädlichen Vorurteilen, die zu einem "Klima der Verachtung" führen. Der tagelange Pogrom von Rostock-Lichtenhagen im Jahr 1992 kommt einem da in den Sinn, und die Tatenlosigkeit der Polizei. Damals haben sich Kommunalpolitiker bei den deutschen Einwohnern entschuldigt für die Unbill und die öffentliche Kritik, die sie hätten erleiden müssen.
Auch die Bilder von Solingen fallen einem ein, von Pfingsten 1993: Das brennende Haus der türkischen Familie Genc, fünf tote Frauen, viele Schwerverletzte. Die Gedenkveranstaltung damals fand im Deutschen Bundestag statt. Es wurden dort nicht, wie heute, die Namen der türkischen Opfer verlesen. Sie bestand nämlich darin, das Grundgesetz zu ändern, der alte Asylartikel 16 Absatz 2 wurde abgeschafft. CDU-Innenminister Kanther freute sich ein Jahr später in einem Interview über stark gesunkene Flüchtlingszahlen. "Dieses Ergebnis wäre nicht erzielbar gewesen ohne die öffentliche Auseinandersetzung - die natürlich auch Hitzegrade erzeugt hat"; er sagte tatsächlich "Hitzegrade".
Die Kanzlerin erklärt nun, "wie wichtig Sensibilität und ein waches Bewusstsein" dafür sind, "wann Abwertung beginnt". Die meisten Politiker hatten diese Sensibilität und dieses Bewusstsein nicht; die Medien auch nicht. Und diejenigen, die es besaßen, hatten die Kraft nicht, etwas zu ändern und die öffentliche Stimmung zu wenden. 15 Jahre lang, das begann Mitte der achtziger Jahre, lebten die deutschen Wahlkämpfe von der angeblichen Überfremdung Deutschlands. Welche Verwüstungen haben sie ausgelöst?
"Aus Worten können Taten werden", klagt die Kanzlerin nun. Man erinnert sich an das alte CSU-Wort von der "durchrassten Gesellschaft" und an die Leserbriefe, die sich über das "Getue um ein paar tote Türken" empörten: Die Ausländer in Deutschland hätten doch "schon viel mehr Deutsche umgebracht". Ist es nur Zufall, dass die Rechtsextremisten von Zwickau in einem solchen Klima zu Rassisten und Mördern heranwuchsen?
Fünfzig Jahre lang hat die deutsche Politik über die Köpfe der Einwanderer hinweg darüber gestritten, ob Deutschland nun ein Einwanderungsland ist oder nicht. Die sogenannte Ausländerpolitik wurde nicht für die Neubürger gemacht, sondern für die eingesessenen deutschen Wähler; sie waren die alleinigen Adressaten. Und im Umschlag mit der falschen Adresse steckte auch noch eine falsche Politik, eine, die den Einwanderer vor allem als Sicherheitsrisiko beschrieb.
Erst 2005 trat das Zuwanderungsgesetz in Kraft, das aus lauter Vorsicht nicht Einwanderungsgesetz heißen durfte. Es hätte eigentlich einen großen bunten Teppich weben sollen, auf dem Integration stattfinden kann. Es wurde aber nur ein Topflappen daraus. Aber damit werden seitdem, immerhin, die Probleme angepackt. Es sind neue Zeiten angebrochen, begleitet von elenden Leitkulturdebatten und törichten Sarrazinismen. Die Gedenkfeier war da eine Mahnung. Die Kanzlerin warb für Toleranz.
Vielleicht ist ein anderes Wort noch besser: Respekt. Integration basiert auf dem Respekt der Alt- und der Neubürger voreinander und füreinander. Dass der Respekt der Alt- für die Neubürger so lange auf sich warten ließ, ist "Nostra culpa".