Gedenken an 9/11:Wunden einer Supermacht

Es ist der Tag der Hinterbliebenen: Zehn Jahre nach den Anschlägen gedenken die Amerikaner mit einer bewegenden Feier der Opfer am Ground Zero in New York. Die Besucher sind in sich gekehrt oder von Trauer überwältigt - andere wollen ihre Geschichten loswerden. Und alle sind froh, dass es nun endlich eine Gedenkstätte für die fast 3000 Opfer gibt.

Jörg Häntzschel, Nikolaus Piper und Christian Wernicke, New York

Es war, als hielte Amerika für einen Augenblick inne. Am zehnten Jahrestag der Terroranschläge vom 11. September 2001 gedachte die Nation auf stille, fast unpolitische Art der Opfer des Terrors. Dazu gesellten sich Angst und Beklommenheit. Seit die Behörden am Donnerstag Hinweise auf die Pläne von Islamisten für ein neues Attentat in New York oder Washington veröffentlicht hatten, überzog die Polizei beide Städte mit beispiellosen Sicherheitsmaßnahmen. Jedes Jahr seit dem 11. September wird am Ground Zero der 2983 Toten gedacht, die in den Türmen, an Bord der Flugzeuge und im Pentagon starben. Die Ansprache des Bürgermeisters, die Verlesung der Namen - das alles war schon fast Routine geworden. Die Gedenkfeier zum zehnten Jahrestag jedoch brachte den New Yorkern die Katastrophe so nahe wie schon seit Jahren nicht mehr. Mit ihr wurde die nationale Gedenkstätte für die Opfer am Ground Zero eröffnet. Nachdem ein Jugendchor aus Brooklyn die Nationalhymne gesungen hatte, rief Bürgermeister Michael Bloomberg um 8.46 Uhr zu einer Schweigeminute auf. Es war genau zu dieser Zeit vor zehn Jahren, als Tausende in Manhattan fassungslos zusahen, wie eine Boeing 757 von American Airlines in den Nordturm des World Trade Centers raste. Anschließend trat Präsident Obama, der neben seinem Vorgänger George W. Bush auf dem Podium stand, ans Mikrofon und verlas den 46. Psalm: "Gott ist unsere Zuversicht und Stärke. Eine Hilfe in den großen Nöten, die uns getroffen haben." Siebzehn Minuten später, um 9.03 Uhr, genau zehn Jahre nachdem das zweite Flugzeug in den Südturm gerast war, erneut Schweigen über Ground Zero. Ex-Präsident Bush, der im Gegensatz zu Obama mit kurzem Applaus und ein paar Pfiffen begrüßt worden war, verlas einen Brief Abraham Lincolns an eine Mutter, die fünf Söhne im amerikanischen Bürgerkrieg verloren hatte. Anschließend verbrachten der amtierende und der ehemalige Präsident und ihre Ehefrauen schweigend einige Minuten an der Gedenkstätte; sie ist von diesem Montag an für die Allgemeinheit geöffnet. Dort, wo die Doppeltürme standen, liegen jetzt zwei quadratische Pools, von deren Rändern Wasser in die Tiefe stürzt, um in einer Öffnung zu verschwinden. Als der Präsident die Gedenkfeier verlassen hatte, strömten die Familien der Opfer zu dem Memorial. Entlang der Brüstung um die beiden Becken suchten sie unter den 3000 Namen der Opfer von New York, Washington und Shanksville, Pennsylvania, nach ihren Angehörigen. Sie strichen mit den Fingern über sie und kopierten sie mit Bleistift auf Papier. Überhaupt ist es der Tag der Hinterbliebenen. Manche sind nur in sich gekehrt oder von Trauer überwältigt. Andere wiederum wollen ihre Geschichten loswerden. Elba Cedeno aus New Jersey zum Beispiel. Sie hält ein Schild in die Höhe: "Cathy Smith - We Will Never Forget", wir werden dich nie vergessen. Cathy arbeitete auf der 97. Etage des Nordturms und war Elbas Lebenspartnerin. Hätte es die Anschläge nicht gegeben, hätten die beiden vermutlich geheiratet, sagt Elba - die gleichgeschlechtliche Ehe ist in New York mittlerweile legal. Immer noch im Bau ist das Museum, das die Geschichte des Anschlags erzählen wird, aber auch "One World Trade Center", der mit 417 Metern das höchste Gebäude New Yorks und ikonischer Nachfolger der Doppeltürme an der Skyline werden soll. Der ursprüngliche Name "Freedom Tower" wurde von der New Yorker Hafenbehörde, der Bauherrin, fallengelassen - angeblich auf Druck des chinesischen Konzerns Vantone, der zu den ersten Mietern gehörte. Nachdem das Heimatschutzministerium am Donnerstag von "konkreten, glaubwürdigen aber unbestätigten Hinweisen" auf Anschlagspläne berichtet hatte, die der neue Al-Qaida-Chef Ayman al-Sawahiri selbst in Auftrag gegeben haben soll, verwandelte die Polizei die Stadt in eine Festung. Ohnehin war die Sorge vor einem neuen Attentat gewachsen, seit bei der Erstürmung des Verstecks von Osama bin Laden im Mai entsprechende Pläne gefunden worden waren. Doch die neuen Hinweise, die von einem pakistanischen Informanten stammen, und die Anwesenheit des Präsidenten ließen die Verantwortlichen zu Maßnahmen greifen, wie man sie seit 2001 nicht mehr erlebt hatte. Nach Medienberichten fürchten die Behörden, dass eine große Autobombe, möglicherweise von der Größe eines Lastwagens, in einem der New Yorker Tunnel oder auf einer Brücke gezündet werden könnte. Zuletzt suchte die Polizei nach drei Lieferwagen, die im August in der Nähe New Yorks gestohlen wurden. An Kontrollposten vor den Brücken und Tunneln und um Midtown Manhattan durchsuchte die Polizei in Sonderschichten Lastwagen und Kleinbusse. Im Halteverbot parkende Autos wurden umgehend abgeschleppt. Vor gefährdeten Gebäuden - darunter Wahrzeichen der Stadt wie dem Empire State Building, Fernsehsendern und jüdischen Einrichtungen - fuhren oft Dutzende von Polizeistreifen auf. In der U-Bahn kontrollierten Polizisten mit Sturmgewehr und Schutzwesten Gepäckstücke. Über der Freiheitsstatue kreisten Hubschrauber. Das Gebiet um Ground Zero wurde weiträumig abgesperrt. Auf vielen Dächern und Balkonen hatten sich Scharfschützen in Stellung gebracht. Die New Yorker erduldeten die Maßnahmen gelassen und verständnisvoll, wenn auch besorgt. Auch in der Hauptstadt Washington waren die Behörden vorsichtig. Vor dem Weißen Haus, auf der seit Jahren für den Straßenverkehr gesperrten Pennsylvania Avenue, beobachteten Polizisten und an ihren schwarzen Sonnenbrillen erkennbare Personenschützer des Secret Service jeden Passanten. Vor sämtlichen Regierungsgebäuden standen mehr Sicherheitskräfte als sonst. Aus Angst vor Autobomben wurden im Regierungsviertel Parkhäuser gesperrt. Auch am Pentagon wurde am Sonntag des schwarzen Tags gedacht. Vizepräsident Joe Biden sprach dort vor den Angehörigen der 184 Toten. Am Samstag hatte Biden in Shanksville eine Gedenkstätte für die Opfer von Flug United Airlines 93 eröffnet, der vierten Maschine, die entführt und von vier Terroristen offenbar als Bombe in das Kongressgebäude in Washington gelenkt werden sollte. UA 93 war nahe des Weilers Shanksville in Pennsylvania in ein Feld gestürzt. Biden ehrte die Toten als Helden: "Sie haben ihr Leben geopfert, damit wir das unsere bewahren konnten."

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