Es ist an der Zeit, über anderes zu reden als über Geld. Es geht um Leben. Und es geht darum, wie Kinder das Leben von Frauen und Männern prägen, und warum manch einer sich auf dieses Abenteuer nicht einlassen mag oder kann.
Aber zuerst die Fakten: In Deutschland, dem Land mit der niedrigsten Geburtenrate Europas, kamen im vergangenen Jahr 15.000 Babys weniger auf die Welt als 2010. Die Zahl der Geburten sank damit um mehr als zwei Prozent.
Familienpolitiker und alle, die sich aufgrund eigener Erfahrungen dafür halten, nutzen diese Zahlen für sehr unterschiedliche Debatten. Kinder sind unbezahlbar, sagen die einen: zu wenige Kita-Plätze, zu viel Hartz IV, zu langes Studium, zu unsichere Jobs, zu hohe Mieten, zu teure Kinderwunschbehandlung - so argumentieren diejenigen, die meinen, Paare würden schon Kinder bekommen, wenn denn nur die (bitte vom Staat zu schaffenden) Bedingungen besser wären.
Die anderen, die sich mit der sinkenden Geburtenrate bereits abgefunden haben, nehmen die Statistik zum Anlass für ein "Siehste!". Habe man doch gewusst, dass Elterngeld, Kindergeld und all die anderen Leistungen für Familien nichts dazu beitragen, die Fortpflanzungsfreude deutscher Paare zu erhöhen. Kinder seien eben unbezahlbar.
Natürlich ist an beidem etwas dran. Nirgendwo sonst werden Familien nach dem Prinzip Gießkanne so großzügig bedient wie in Deutschland, und nirgendwo bewirken solche Milliarden so wenig. Auch das Elterngeld hat bei allen positiven Effekten - wie dem wirksamen Babypause-Anreiz für Väter - auf die Geburtenrate bislang keinen messbaren Einfluss gehabt. Familienpolitiker hören es ungern, denn es nimmt ihren Argumenten die Wucht, aber das Ja zum Kind wird weit stärker von gesellschaftlichen, religiösen und individuellen Faktoren beeinflusst als von finanziellen.
Die Geburtenrate in Amerika zum Beispiel liegt deutlich über der in vielen westlichen Industriestaaten, obwohl die Gebühren für Kitas und Colleges pro Kinderleben dort häufig dem Wert einer Eigentumswohnung entsprechen. Dieser statistische Erfolg erklärt sich nicht nur mit der hohen Zuwanderung, sondern auch damit, dass Religiosität und Statusdenken (mein Haus, meine Kinder, meine Autos) die Mehrkinder-Familie zur gesellschaftlichen Norm machen, die es mit Mut und Tatkraft zu erfüllen gilt.
In Deutschland fehlt es Frauen und Männern oft gar nicht am Wunsch nach Kindern, sondern sie schaffen es nicht, ihn zu verwirklichen. Denn damit Kinder entstehen, braucht es Bindungen. In einer Welt der scheinbar vielen Wahlmöglichkeiten wird aber die Unverbindlichkeit geschätzt.
Insbesondere Menschen mit besserer Ausbildung sind mobiler geworden, sie ziehen ihren Jobs hinterher, was für beide Geschlechter gilt. Sie bekennen sich immer später zu einem festen Partner und ziehen noch später zusammen. Die Familiengründung wird verschoben, was sie biologisch unwahrscheinlicher macht. Gleichzeitig steigen die Ansprüche an Partnerschaften. Es wird lange nach dem oder der Richtigen gesucht. Für Frauen mit Kinderwunsch ist es dann schnell zu spät.
Dies alles hat Vorteile. Kaum jemand wünscht sich Zeiten zurück, in denen Ehen allein von Konvention und wirtschaftlicher Not gekittet wurden, und in denen hinter jeder Männerkarriere die kofferpackende Ehefrau stand. Zudem lässt es sich durchaus als Errungenschaft deuten, dass Kinderlosigkeit in Deutschland - wenn auch schlecht für die Sozialkassen - weitgehend sozial akzeptiert ist. Das nimmt denen den Druck, die aus Mangel am passenden Partner oder aus medizinischen Gründen keine Kinder bekommen, genau wie denen, die sich gegen Kinder entscheiden.
Wenn da nicht die vielen wären, denen der Mut zum Kind fehlt, und die dies später bitter bereuen. Um ihnen Mut zu machen, muss sich vor allem die Arbeitswelt ändern. Denn das Berufsleben von heute ist immer noch nach den Regeln von gestern organisiert. Kinder und Familie haben dort nur am Rande einen Platz.
In den USA hat gerade eine heftige Debatte eingesetzt, nachdem Anne-Marie Slaughter, eine Top-Beraterin von Außenministerin Hillary Clinton, auf ihren Professorinnen-Job zurückgekehrt war, weil sie ihre Power-Karriere nicht mit ihren Aufgaben als Mutter von Teenagern vereinbaren konnte. In der Berufswelt bekomme man mehr Anerkennung, wenn man wegen Marathon-Trainings oder aus religiösen Gründen nicht erreichbar sei, als wenn man Familienaufgaben wahrnehme, schrieb sie in einem brillanten Aufsatz im Magazin The Atlantic.
Leider wird auch dieser Essay so wie das Thema überhaupt vor allem von Frauen diskutiert. Ja, Väter kümmern sich heute deutlich mehr als die Vorgänger-Generation um ihre Kinder. Dies geht so weit, dass einige - zum Beispiel auch Slaughters Mann - ihren Frauen den Großteil der Pflichten daheim abnehmen. Noch immer verhindern jedoch Präsenzkultur, Reisezwang und andere Gepflogenheiten der Arbeitswelt häufig, dass sich Familie und Beruf zur Zufriedenheit von Müttern und Vätern miteinander vereinbaren lassen. Mit der Kita-Frage fängt die Debatte darüber hierzulande überhaupt erst an.