Konfrontation mit Israel:"Es werden noch einige Tote mehr werden"

Lesezeit: 3 Min.

In Gaza-Stadt liegen am Montag Getötete im größten Krankenhaus in weißen Tüchern. Ärzte berichten von einer "unglaublich" hohen Zahl von Schussverletzungen. Und eine Familie trägt ihr Baby zu Grabe.

Von Alexandra Föderl-Schmid, Gaza/Mefalsim

Anwar Ali Al-Ghandour geht an der Spitze des Zugs, seine Tochter Laila hält er im Arm. Sie ist in die palästinensische Flagge gewickelt, das acht Monate alte Baby ist tot. Immer wieder erschallen die Rufe "Tod Israel!" und "Ende mit der Gewalt" aus der Menge, die sich auf die Al-Omari-Moschee zubewegt. Es sind etwa hundert Männer, die den kleinen Leichnam begleiten.

Der 27-Jährige und seine Frau Mariyam hatten am Vortag in einem der Zelte in jenem Camp östlich von Gaza-Stadt gesessen, das zu Beginn der Protestwelle vor sieben Wochen etwa 700 Meter von der Grenze entfernt errichtet worden war. Direkt neben der Familie schlug eine Tränengasgranate ein, die die israelischen Einsatzkräfte am Montag über die Grenze in den Gazastreifen schleuderten. Zu Hause habe das Mädchen plötzlich zu weinen aufgehört, der Arzt im Krankenhaus habe den Tod festgestellt, berichtet der Vater. Vor einem Jahr hat das Paar bereits einen Sohn zwanzig Tage nach der Geburt verloren.

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Dutzende Menschen warten vor der Leichenhalle hinter dem Shifa-Krankenhaus, dem größten von Gaza-Stadt. Es öffnet sich immer wieder die Tür, ein Name wird aufgerufen, dann dürfen Angehörige und Freunde hinein. Draußen hat es 25 Grad, drinnen ist es kalt. Auf einem silbernen Seziertisch liegt im fahlen Licht Yazan Tobar, eingehüllt in ein mit Blut verschmiertes weißes Tuch.

Seine Nachbarn, die Brüder Ihab und Osama al-Qerahalli, sind gekommen, um den 23-Jährigen auf seinem letzten Weg zu begleiten. Der Tote sei kein Hamas-Mitglied gewesen, versichern sie. Er habe am "Marsch der Rückkehr" teilgenommen, weil seine Familie aus dem Westjordanland vertrieben worden sei und deshalb im Gazastreifen lebe. Der Tote sei das älteste Kind gewesen, habe als einziger einen Job gehabt - als Reinigungskraft in genau jenem Krankenhaus, in dessen Leichenhaus er nun liegt.

Yazan Tobar sei kein Hamas-Mitglied gewesen, sagen die Nachbarn über den Getöteten, dessen Leichnam im Shifa-Krankenhaus in Gaza-Stadt liegt. (Foto: Alexandra Föderl-Schmid)

Etwa hundert Verletzte in kritischem Zustand

Im nächsten Raum öffnet ein Mann einen der silbernen Schränke und zieht eine in ein weißes Tuch gehüllte Leiche heraus. Ein handgeschriebenes Schild gibt Auskunft über seinen Namen. Alle 15 Laden sind gefüllt, in dieser Klinik sind am Vortag 18 Menschen gestorben. "Es werden noch einige mehr werden", sagt Aymann Al-Sahabani, Chef der Notfallmedizin im Shifa-Krankenhaus.

Von den 2771 Verletzten des Vortages im gesamten Gazastreifen befänden sich noch circa hundert in kritischem Zustand, einige auch in seinem Krankenhaus. Die meisten hätten Schussverletzungen, vergleichsweise wenige seien durch Tränengas verletzt worden, erklärt der Arzt, während er durch die Gänge führt. Überall stehen Betten mit Patienten, bei den meisten sind die Beine verbunden, bei manchen auch die Arme.

Die gut zwei Dutzend Liegen in dem großen, blauen Zelt vor der Klinik sind leer. Das Zelt ist extra aufgestellt worden, weil im Gebäude nicht genug Platz war, um all die Verwundeten zu versorgen. Ein Krankenpfleger spritzt mit einem Gartenschlauch die Reste von Blut weg.

Einige Straßen weiter sitzen Menschen mit Verbänden vor einer Eingangstür auf einem Gehsteig und warten auf Einlass. Es ist eine Station von Ärzte ohne Grenzen. Seit Februar ist die in München aufgewachsene Elisabeth Gross Projektkoordinatorin. Die Organisation ist derzeit mit vier chirurgischen Notfallteams in drei Kliniken im Einsatz.

Lenkdrachen mit brennbarer Flüssigkeit hatten zwei Brände ausgelöst

Am Montag hätten die Teams statt einer Operation gleich 15 angesetzt und sich auf lebensrettende Maßnahmen konzentriert, berichtet Gross. In den vergangenen Wochen habe es sich bei Schussverletzungen vor allem um solche unterhalb der Hüfte gehandelt. Am Montag seien vermehrt Schüsse auch im oberen Körperbereich festgestellt worden: "Die Zahlen sind unglaublich hoch."

An der Hose und dem T-Shirt sind noch die Blutflecken von den gestrigen Auseinandersetzungen zu sehen: Der 24-jährige Ezedin im Grenzgebiet zu Israel im Gazastreifen. (Foto: Alexandra Föderl-Schmid)

Die Organisation habe seit Beginn der Proteste mehr Menschen als in den Gazakriegen 2008/09 und 2014 behandelt. Montag war der blutigste Tag seit Jahren. Er markierte gleichzeitig das 70. Jubiläum der Staatsgründung Israels und den Umzug der US-Botschaft nach Jerusalem. Der palästinensische Präsident Mahmud Abbas zog aus Protest gegen die Verlegung seinen Repräsentanten in Washington ab. Der palästinensische Außenminister Riad Malki sagte dazu: "Als sie (die USA) ihre Botschaft in Jerusalem eröffneten, war von unserer Seite eine Entscheidung nötig und dies war unsere Entscheidung."

Das israelische Militär gab am Dienstag bekannt, nach seinen Erkenntnissen seien mindestens 24 der 60 Getöteten Mitglied einer Terrororganisation wie Hamas oder Islamischer Dschihad. Am Dienstag wurden zwei Palästinenser von israelischen Soldaten getötet bei Protesten an der Grenze zwischen Gazastreifen und Israel. 4000 Palästinenser hätten sich beteiligt, teilte die israelische Armee mit, Soldaten seien mit Brandsätzen angegriffen worden. Auf israelischer Seite war deutlich weniger Militär und Grenzpolizei im Einsatz. Feuerwehren mussten zwei Brände löschen, die Lenkdrachen mit brennbarer Flüssigkeit aus dem Gazastreifen entzündet hatten. Dort brannten auch Barrikaden. Einer der jungen Leute, die sich etwa 150 Meter vom Grenzzaun entfernt versammelten, war 24-jährige Ezedin, sein T-Shirt mit der Aufschrift "Milano" ist noch blutverschmiert. Er berichtet, Hamas habe ihnen gesagt, zu Hause zu bleiben, die Krankenhäuser seien zu voll.

© SZ vom 16.05.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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