Gazastreifen:Sind die Todeszahlen aus Gaza zu niedrig?

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Ein Luftbild aus dem März 2024 zeigt Trauernde und medizinisches Personal vor einem Massengrab mit 47 Palästinensern in Rafah. (Foto: SAID KHATIB/AFP)

Im Gazastreifen könnten viel mehr Menschen ums Leben gekommen sein, als das dortige Gesundheitsministerium angibt. Das legt eine neue Studie nahe. Doch die wirkliche Zahl zu finden, ist schwierig.

Von Leonard Scharfenberg

Eineinhalb Millionen Palästinenser wolle er „umsiedeln“. Neben der großen Verunsicherung, die der Plan von US-Präsident Donald Trump ganz generell auslöst, ist es dieses Detail, das aufhorchen lässt: Den meisten Schätzungen zufolge leben im Gazastreifen mehr als zwei Millionen Menschen. Die von Trump genannte Zahl wurde in den sozialen Medien schnell zum Beweis erhoben, der Krieg habe bereits mehr als eine halbe Million Todesopfer gefordert. Viel wahrscheinlicher ist: Trump hat sich vertan.

Allerdings: Die Frage nach der Zahl der Toten von Gaza ist komplex. Und die Antworten sind hochumstritten. Israel spricht von 20 000 getöteten Hamas-Kämpfern und der gleichen Zahl an zivilen Opfern. Das Gesundheitsministerium in Gaza gibt Anfang Februar 48 219 Tote an. Die Behörde, die der Hamas-Regierung untersteht, differenziert dabei nicht zwischen Kämpfern und Zivilistinnen und Zivilisten.

Die Angaben könnten um bis zu 40 Prozent zu niedrig liegen

Auch die Zahlen des Gesundheitsministeriums sind womöglich nicht richtig. Zwei kürzlich im Wissenschaftsmagazin The Lancet veröffentlichte Artikel kommen zu dem Ergebnis, dass die Angaben um bis zu 40 Prozent zu niedrig liegen könnten. Diese Schätzung der Forscher um die Londoner Epidemiologin Zeina Jamaluddine beruht auf einer Auswertung von Todesdaten von Kriegsbeginn bis Juni 2024. Das Gesundheitsministerium in Gaza ging zu diesem Zeitpunkt von fast 38 000 Toten aus. Die Wissenschaftler schätzen die tatsächliche Zahl der direkten Toten durch den Krieg dagegen auf 64 260.

Die Studie vergleicht drei Quellen miteinander: Todesmeldungen der Krankenhäuser, Social-Media-Posts mit den Namen von Verstorbenen und eine Onlineumfrage des Gesundheitsministeriums, über die Angehörige Todesfälle melden konnten. Aus den namentlichen Überschneidungen errechnen die Forschenden die vermutete Zahl der Toten, die in keiner der drei Quellen erfasst sind. Das Verfahren ist kompliziert, vereinfacht gesagt, verrechnet die Studie die Ergebnisse verschiedener Annahmen miteinander. Am Ende steht ein Wert mit einem sehr hohen Konfidenzintervall, das eine mögliche reale Todeszahl von etwa 55 000 bis mehr als 78 000 ausgibt.

Diese hohe Ungenauigkeit trägt der Untersuchung vorsichtige Kritik ein. Der Ökonomieprofessor Michael Spagat vom Londoner Royal Holloway College ist Experte für die Quantifizierung von Kriegsopfern. Zwar hält er die Studie für „einen guten Beweis, dass die Zahlen des Gesundheitsministeriums zu niedrig sind, vielleicht viel zu niedrig“. Es sei jedoch sehr unsicher, wie groß der Unterschied tatsächlich ist. Deshalb habe er „mehr Vertrauen“ in die kleinere Zahl von 55 000 Todesopfern, die in der Studie geschätzt wird, sagt er der Süddeutschen Zeitung. Spagat findet, die Forscher hätten eher das Intervall in den Vordergrund ihrer Veröffentlichung stellen sollen als die Zahl von 64 260, die mehr Genauigkeit verspreche, als sie einhalten könne.

Die durchschnittliche Lebenserwartung ist wohl extrem gesunken

Anfang Februar folgte dann eine zweite Studie im Lancet, diesmal zur Lebenserwartung der Menschen im Gazastreifen. Die sei in den ersten zwölf Monaten des Krieges rapide gesunken. Die Untersuchung hat die Sterblichkeit für verschiedene Altersgruppen vor und nach einem Jahr Krieg errechnet und dafür auf verschiedene Quellen wie das Flüchtlingsregister der UNRWA, den Zensus der Palästinensischen Autonomiebehörde und die Daten des Gesundheitsministeriums in Gaza zurückgegriffen. Demzufolge sei die durchschnittliche Lebenserwartung um mehr als 45 Prozent gesunken. Von ursprünglich mehr als 75 Jahren auf nur etwas mehr als 40 Jahre. Dabei sei die Lebenserwartung der Männer noch deutlich stärker gesunken als die der Frauen.

„Der gesamte Rückgang ist extrem“, sagt Michel Guillot, Statistik- und Demografieprofessor an der University of Pennsylvania, zu seiner Studie. Er betont, es handele sich bei der Annahme noch um eine „sehr konservative“ Schätzung, da die höhere Sterblichkeit durch indirekte Kriegsfolgen, etwa durch Mangelernährung nicht einbezogen worden sei. Dass die durchschnittliche Lebenserwartung derart stark einbreche, sei eine Folge der besonderen Bedingungen im Gazastreifen. „Normalerweise fliehen die Menschen von den Schauplätzen der größten Kriegsgewalt, hier ist das nicht möglich“, erklärt Guillot. Nach einem dauerhaften Ende der Kämpfe könne sich die Lebenserwartung aber auch schnell wieder erholen, wie ein Vergleich mit anderen Studien zeige.

Beide Studien wurden von anderen Forschern unabhängig im sogenannten Peer-Review-Verfahren überprüft. Das unterscheidet sie von einem deutlich weniger umfangreichen Lancet-Beitrag aus dem Juli 2024. Darin hatten die Autorinnen und Autoren die Zahl der indirekten Kriegstoten errechnet und waren auf etwa 186 000 Menschen gekommen, darunter auch jene, die noch an den Folgen sterben könnten. Der Beitrag hatte viel Kritik auf sich gezogen.

Am Ende haben aber alle Schätzungen und Modelle ein gemeinsames Problem: Sie beruhen auf den Zahlen des Gesundheitsministeriums in Gaza. Bislang halten sie den stichprobenartigen Kontrollen einiger Forscher und Organisationen stand, wirklich unabhängig überprüfbar sind sie dennoch bisher nicht. Das wäre erst möglich, wenn sich die politische Lage beruhigt und Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Zugang zum Gazastreifen bekämen.

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