Süddeutsche Zeitung

Gaucks Weltkriegsgedenken mit Russland-Kritik:Gegenwart holt Vergangenheit ein

Joachim Gauck reist nach Danzig, weil dort vor 75 Jahren der deutsche Angriff begann. Die aktuelle Krise in der Ukraine überschattet die Erinnerung. Die Gedenkrede des Bundespräsidenten zum Zweiten Weltkrieg führt zügig vom Gestern ins Heute.

Von Constanze von Bullion, Danzig

Es wird nicht lange dauern und beim Gedenken wird die Gegenwart die Vergangenheit überholen. Aber das ist ja durchaus im Interesse der Präsidenten.

Die Westerplatte an der polnischen Ostsee an einem kühlen 1. September. Hier begann vor 75 Jahren der Zweite Weltkrieg, an diesem Montag spielt ein Orchester die Tragische Ouvertüre von Andrzej Panufnik. Ein Rasen geht durch diese Musik, zwischendurch meint man, deutsche Stukas heulen zu hören.

Die Polen gedenken morgens um 4.45 Uhr

Mit Hunderten Gästen feiert der polnische Präsident Bronisław Komorowski an diesem Montag mit Joachim Gauck eine Gedenkfeier der nicht ganz stillen Art. Das liegt nicht nur an der Musik, sondern auch an der Weltlage. Zunächst aber stellen die Präsidenten am Friedhof des polnischen Heeres Grablichter ab, dann erinnern sie am "Denkmal für die Verteidiger der Küste" an den Kriegsbeginn - und daran, dass Gefechtslärm, Krieg und Gegenwehr keineswegs so vergangen sind, wie Europa angenommen hatte.

Die Westerplatte

"Danzig ist nicht das Objekt, um das es geht. Es handelt sich für uns um die Erweiterung des Lebensraums im Osten." Im Mai 1939 hatte Adolf Hitler wieder einmal den Obersten Befehlshabern der Wehrmacht klar vor Augen geführt, worum es ihm eigentlich ging. Und doch eignete sich Danzig, 1920 nach dem Versailler Vertrag vom Deutschen Reich abgetrennt, zur Freien Stadt erklärt und mit einem Bevölkerungsanteil von 90 Prozent Deutschen, wie kein anderer Ort dazu, Stimmung gegen die Polen zu machen und einen Vorwand für einen Krieg zu suchen.

Am 1. September 1939 um 4.45 Uhr (nicht wie Hitler später am Tag behauptete: 5.45 Uhr) feuerte das deutsche Schulschiff Schleswig-Holstein, das offiziell zu einem Freundschaftsbesuch vor der Stadt ankerte, seine Kanonen auf die Westerplatte ab. Die bewaldete Halbinsel an einem Mündungsarm der Weichsel ist etwa zwei Kilometer lang und an der Nahtstelle zum Festland nur 60 Meter breit. Dort bewachten 182 polnische Soldaten ein Munitionsdepot. Da den Polen ein Seehafen fehlte, hatten sie 1924 vom Völkerbund die Erlaubnis erhalten, auf der Westerplatte eine Art Enklave für See-Kriegsgerät zu betreiben.

Die Besatzung wehrte sich verbissen - erst am 7. September gaben die letzten polnischen Soldaten auf. Obwohl anderswo an diesem 1. September früher Schüsse gefallen sein dürften, die Westerplatte bleibt das Symbol für den Beginn eines mörderischen Weltkriegs. Nach 1945 wurden fast alle deutschen Danziger vertrieben, Gdansk wurde von polnischen Neusiedlern übernommen. 1965 wurde auf der Halbinsel ein 25 Meter hohes, monumentales Steindenkmal zu Ehren der Verteidiger errichtet. Robert Probst

Zunächst aber erinnert der polnische Präsident Komorowski an das unfassbare Leid, das in jenen Morgenstunden des 1. September 1939 über Europa hereinbrach, insbesondere über Polen. In dem folgenden Krieg wurde jeder fünfte Pole getötet. "Unglück und Leid erfuhren nicht nur die Opfer des Überfalls, sondern alle, auch die Täter", sagt er. In Polen wird an diesem Tag von 4.45 Uhr morgens an traditionell an den deutschen Überfall erinnert. Damals beschoss das Schulschiff Schleswig-Holstein das polnische Festland.

Aber nicht nur an die Salven der Schleswig-Holstein solle erinnert werden, nicht nur an Massenterror und Barbarei, sagt Polens Präsident. Vielmehr stehe die Westerplatte für die europäische Aussöhnung, für die "Schicksalsgemeinschaft" von Deutschen und Polen - und für die Verpflichtung, die "Augen offen zu halten" für das, was sich heute im Osten der EU abspiele.

Wenn die Beziehungen zwischen Völkern so tief von Unrecht, Schmerz und Demütigung geprägt waren, sei eine "Entfeindung" alles andere als selbstverständlich, sagt Joachim Gauck. "Die Annäherung zwischen unseren Völkern kommt mir daher wie ein Wunder vor."

Dass Gauck und Komorowski ein herzliches Verhältnis pflegen, ist bekannt. Komorowski war vor 1989 ein Oppositioneller, wenn auch ein mutigerer als Gauck in der DDR. Der Pole hat es dem Deutschen nicht vergessen, dass der seinen ersten Staatsbesuch in Polen absolvierte, nicht in Frankreich.

An diesem Montag aber geht es um mehr als nette Gesten, ein Schulterschluss wird da zelebriert, der auch militärisch verstanden werden soll. "Uns führt heute das Gedenken zusammen", sagte Gauck. "Aber genauso stehen wir angesichts der aktuellen Bedrohung zusammen."

Schon am Morgen hatte der polnische Regierungschef Donald Tusk den Tag zum Anlass genommen, eine Stärkung der Nato zu fordern. Die Lehre des Zweiten Weltkriegs, das sei auch eine Haltung, die "kein naiver Optimismus" sein dürfe. In der Ukraine sei die Zeit schöner Worte vorbei.

Auch Gaucks Gedenkrede führt zügig vom Gestern ins Heute. Zum Europa der Zukunft gehöre "der starke Wille, die schmerzhafte Vergangenheit wohl zu erinnern, letztlich aber doch hinter sich zu lassen", sagt er.

Noch vor fünf Jahren, als sich auf der Westerplatte 20 Staats- und Regierungschefs zum Gedenken trafen, habe man geglaubt, auch Russland könne Teil des gemeinsamen Europa werden. "Wohl niemand hat damals geahnt, wie dünn das politische Eis war, auf dem wir uns bewegten." Es sei ein "Schock", dass am Rand von Europa wieder um eine "neue Ordnung" gekämpft werde.

In einer Direktheit, die bei Bundespräsidenten rar ist, zeigt Gauck auf Wladimir Putin. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs hätten die EU und Nato neue Beziehungen zu Russland geknüpft und es integriert. Europa wünsche sich eine Rückkehr zu guter Nachbarschaft. "Aber die Grundlage muss eine Änderung der russischen Politik und eine Achtung der Prinzipien des Völkerrechts sein."

Immer wieder taucht dann ein "Wir" in Gaucks Rede auf, es scheint ein wehrhaftes Wir zu sein. "Weil wir am Recht festhalten, es stärken und nicht dulden, dass es durch das Recht des Stärkeren ersetzt wird, stellen wir uns jenen entgegen, die internationales Recht brechen, fremdes Territorium annektieren und Abspaltung in fremden Ländern militärisch unterstützen", sagt er.

Europa stehe zu seinen freiheitlichen Werten. "Wir werden Politik, Wirtschaft und Verteidigungsbereitschaft den neuen Umständen anpassen." Gauck warnt noch, dass territoriale Zugeständnisse "den Appetit von Aggressoren oft nur vergrößern".

Weil das aber womöglich zu kriegerisch klingt, in Polen falsche Erwartungen wecken könnte und auch nicht dem diplomatischen Kurs der Bundeskanzlerin entspricht, schlägt er einen letzten Haken.

Die Präsidenten halten einander die Hände

Die Geschichte lehre auch, dass unkontrollierte Eskalation eine Dynamik entwickeln könne, "die sich irgendwann der Steuerung entzieht". Immer müsse die Diplomatie auch "politische Auswege" offen lassen. Applaus im Publikum, das Orchester spielt auf, und die beiden Präsidenten legen Kränze an der Gedenkstätte nieder.

Für einen langen Moment hält der polnische Präsident die Hand des deutschen.

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SZ vom 02.09.2014/odg
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