Gauck:Wie dünn die Kruste ist

Kein einziger Bundesminister hielt es in dieser Woche für nötig, zur Bundestagsdebatte über den anschwellenden Rechtsextremismus zu gehen. Das war eine Schande. Es war und ist Zeit für ein klares Wort des Bundespräsidenten.

Von Constanze von Bullion

Eine Weile hatte er sich Zurückhaltung verordnet, jedenfalls für Gaucksche Verhältnisse. Nun meldet der Bundespräsident sich, endlich. Er hat im Disput um Flüchtlinge und das auseinanderdriftende Europa von einer "verstörenden Entwicklung" gesprochen. Verstört zeigt sich das Staatsoberhaupt nicht nur von den Rissen im "Grundgefüge Europas". Gauck stellt auch politische Isolation Deutschlands fest, das in der Flüchtlingskrise "kaum Verbündete" für eine gesamteuropäischen Lösung finde. Gemeint, aber nicht benannt: die Kanzlerin. Nicht zuletzt aber richtet der Bundespräsident sich an die vielen noch Verstörteren des Kontinents, die Zuflucht in Rassismus und Fremdenfeindlichkeit suchen, wo alte Gewissheiten nicht mehr tragen.

"Isoliert die Hetzer, die Brandstifter, die Gewalttäter", sagt Gauck. Das kumpelhafte Du dürfte dem Versuch geschuldet sein, nicht über, sondern mit Menschen zu reden, die den pluralistischen Gesellschaften Europas verloren zu gehen drohen. In Frankreich wählen sie Front National, in Ungarn und Polen trösten sie sich mit nationaler Hybris, und in Sachsen stecken sie Flüchtlingsheime an oder deuten die friedliche Revolutionslosung "Wir sind das Volk!" zu einer Art völkischem Alleinvertretungsanspruch um.

Es stimmt, es ist verstörend, wie schnell Europa sein Gesicht verändert - und wie dünn die Kruste ist, die über das Nachwende-Deutschland gewachsen ist. Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen sind jetzt wieder in aller Munde. Aber kein einziger Bundesminister hielt es in dieser Woche für nötig, zur Bundestagsdebatte über den anschwellenden Rechtsextremismus in Sachsen und anderswo zu gehen. Das war nicht peinlich, das war eine Schande. Und wenn jetzt von höchster Stelle im Staat ein "Stopp" kommt, ist es allerhöchste Zeit.

Von Joachim Gauck aber will das Land noch mehr hören. Wenn es dem Bundespräsidenten ernst ist mit der Verstörung, dann sollte er den Ressentiments weiter auf den Grund gehen, die - nicht nur, aber insbesondere - in postsozialistischen Gesellschaften die Fremdenfurcht befeuern. Es ist ja kein Zufall, dass in ehemaligen Staaten des Warschauer Pakts die Solidarität mit Flüchtlingen gegen null geht und Moslems dort von vielen als Bedrohung empfunden werden; oft ohne auch nur einen zu kennen.

Für ein "Stopp" von höchster Stelle ist es allerhöchste Zeit

Der Umgang mit Minderheiten sei im Kommunismus eben nicht geübt worden wie im Westen, sagt Gauck. Das stimmt, aber es reicht nicht. Es ist auch darüber zu reden, wie gründlich der Realsozialismus jeden Glauben ans Soziale zerstört hat, an die beglückende Kraft des Teilens, den Schutz Schwächerer durchs Kollektiv. Solche Werte, ausgerechnet, wurden vom SED-Staat verhöhnt, und der Mauerfall hat sein Übriges getan. Hol dir, was du kriegen kannst, sonst holt es sich der Wessi - diese bittere Lehre haben viele Ostdeutsche ziehen müssen. Übersetzt auf Flüchtlinge heißt es bei zu vielen deshalb heute: Wir geben nichts.

Wer, wenn nicht Gauck, dieser ostdeutsche Querkopf, ist geeignet, eine solche Debatte anzustoßen. Sie reicht weit über Deutschland hinaus und würde ihm nicht nur Freunde machen. Die Sache aber wäre es wert. Allein schon, um diesen wunderbaren Schlachtruf von 1989 wieder nach Hause zu holen: "Wir sind das Volk."

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