Wenn Abgesandte aus neun Nationen zusammenkommen, um sehr ernsthaft über den Krieg zu reden, dann tun sie das nicht selten, um eine Völkerschlacht zu vermeiden. Oder weil gerade ein Krieg zu Ende gegangen ist. Der Krieg, den Emissäre aus neun Nationen am Freitag in Schloss Bellevue in Berlin verhandelt haben, ist schon eine ganze Weile zu Ende. Aber er prägt, und zwar in sehr facettenreicher Weise, bis heute das kollektive Gedächtnis der europäischen Nationen. In manchen ist er noch immer nicht vorbei.
"1914 - 2014. Hundert europäische Jahre", hieß die Gedenkveranstaltung, zu der Bundespräsident Joachim Gauck in seinen Amtssitz eingeladen hatte. Hundert Jahre nach dem Attentat von Sarajevo, das 1914 den Ersten Weltkrieg auslöste, diskutierten Historiker der Kriegsnationen, zu denen neben Deutschland, Frankreich, Großbritannien oder Russland auch Balkanstaaten wie das heutige Kroatien oder die Türkei gehörten, die unterschiedlichen Erfahrungen und Erinnerungskulturen, die diese "Urkatastrophe" des 20. Jahrhunderts in den jeweiligen Ländern hervorbrachte.
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"Die Fragmentierung der Erinnerung ist eine fast unendliche", sagte der französische Historiker Etienne François in der Debatte, die als Erbe des Ersten Weltkriegs nicht nur die Verwüstung des Kontinents im Zweiten ausmachte. Auch das Gedenken splitterte sich je nach nationaler und ethnischer Identität auf.
Opfernationen wie Belgien, das besetzt war, brauchten lange, um den Blick für Erfahrungen jeweils anderer Volksgruppen, auch der Invasoren von einst zu öffnen. Manchen osteuropäischen Staaten dagegen, die 1918 entstanden, lieferte der Krieg Gründermythen, die bis heute instrumentalisiert werden und das Gefahrengut Nationalismus nachfolgenden Generationen weiterreichen.
Es war Bundespräsident Gauck, der im Schloss einen Bogen vom Damals zum Jetzt schlug. Die territoriale Neuordnung Europas nach dem Ersten Weltkrieg - etwa im Fall von Österreich-Ungarn - habe eine Befreiung von "Vielvölkerstaaten unter einem Regenten von Gottes Gnaden" bedeutet, sagte er. Die Kehrseite der Modernisierung sei die Verknüpfung von Staat und Volkszugehörigkeit gewesen: "die Überbewertung von Blut und Abstammung, Sprache und Kultur, die Unfähigkeit, Minderheiten zu integrieren".
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Auch die geistige Landkarte habe der Erste Weltkrieg verändert. Den einen habe er den Weg zur offenen Gesellschaft gewiesen. Andere habe der Verlust vertrauter Strukturen zum "mythisch überhöhten Gemeinschaftsideal" von Kommunismus oder völkischem Nationalismus geführt und in der Folge zu "beispiellosem Völkermord".
Gaucks Abstecher in die Gegenwart führte nach Russland, das in der Ukraine längst überwunden geglaubte Denkstrukturen an den Tag lege. "Was wir heute erleben, ist ein altes Denken in Macht- und Einflusssphären - bis hin zur Destabilisierung fremder Staaten und zur Annexion fremder Territorien", sagte Gauck. Europa wolle nicht zurück in eine Politik der Konfrontation und der Gewalt, "aber ebenso wenig können wir eine Verletzung des Rechts und eine Infragestellung unserer gemeinsamen Werte hinnehmen".
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Die Bundesregierung, fügte Gauck noch an, habe sich im Ukraine-Konflikt "früh und konsequent, prinzipientreu und zugleich deeskalierend engagiert". Letzteres war wohl ein Hinweis, wie der Bundespräsident seine eigene Forderung nach mehr deutschem Engagement in internationalen Konflikten verstanden wissen will: nicht kriegerisch, sondern zunächst diplomatisch.
Herausgefordert sieht Gauck die Wertegemeinschaft der EU nicht nur von außen, sondern auch von innen. Viele Bürger hielten Brüssel "Demokratiedefizite und Regelungssucht" vor, anderen fehle Gerechtigkeit. Die Globalisierung werde von der Angst begleitet, Heimat und Identität zu verlieren. "Aber der Rückzugsraum Nationalstaat, von dem manche träumen, er existiert so gar nicht mehr", sagte Gauck. Zu den Lehren von 1914 gehöre auch, dass Europa nur noch gemeinsam denkbar sei.