Gauck in Griechenland:Eine Geste, 70 Jahre nach dem Verbrechen

Ein paar Worte sind es nur und man muss sich fragen, warum nicht schon vor Jahrzehnten ein Bundespräsident im griechischen Dorf Lingiades um Vergebung ersucht hat. Dort ermordete die Wehrmacht einst 83 Menschen. Und weil Gauck eben Gauck ist, kann er seine Tränen nicht niederkämpfen.

Von Constanze von Bullion, Lingiades

Wollte man sie zählen, die Eruptionen dieses Besuchs, dann wäre das hier ungefähr die dritte, mit Sicherheit aber die heftigste. "Das, was geschehen ist, war brutales Unrecht", sagt Joachim Gauck. "Mit Scham und Schmerz bitte ich im Namen Deutschlands die Familien der Ermordeten um Verzeihung." Ein paar Worte sind das nur, eine Geste, wenn auch keine unbedeutende, und man muss sich fragen, warum sich nicht schon vor Jahrzehnten ein Bundespräsident dazu hat durchringen können.

Tag drei der Griechenlandreise von Joachim Gauck, es ist die schwierigste Etappe eines Staatsbesuchs, der ohnehin nicht unkompliziert ist. An einem kühlen Frühlingsfreitag führt sie den Bundespräsidenten nach Lingiades, einen Ort, der malerisch an einem Hang über der Stadt Ioannina liegt. Hier oben pfeift der Wind, Familien stehen auf einem Dorfplatz, vor ihnen eine Marmorwand mit mehr als 80 Namen. Hinter ihnen ein Weiler, in dem kaum noch etwas an die Hölle erinnert, die hier vor 70 Jahren losgebrochen ist.

Eine Geschichte ist das, die am 3. Oktober 1943 beginnt, mit Soldaten der Wehrmacht, die den Berg nach Lingiades hinaufsteigen. Eine Straße gibt es damals noch nicht, aber das hält den Trupp nicht auf. Gebirgsjäger aus Mittenwald sind da unterwegs, sie gehören zur 1. Gebirgsdivision, die sich als bedingungslos "führertreu" versteht und im Zweiten Weltkrieg in der Bergregion Epirus Partisanen bekämpft.

Zu den selbsternannten Helden der Division gehört Oberstleutnant Josef Salminger, ein vielfach dekorierter Kämpfer. Als er sich nach einer durchzechten Nacht von seinem Fahrer heimbringen lassen will, gerät der Wagen in einen Hinterhalt. Salminger wird erschossen. Weshalb der Kommandeur der 1. Gebirgsdivision, Hubert Lanz, anordnet, den "ruchlosen Banditenmord" mit einer "schonungslosen Vergeltungsaktion in 20 Kilometer Umkreis der Mordstelle" zu rächen.

Es lebt heute niemand mehr in Lingiades, der noch aus eigener Erinnerung erzählen kann, was damals passierte im Dorf. Aber der Bremer Historiker Christoph Schminck-Gustavus hat sich vor mehr als 20 Jahren die Mühe gemacht, die letzten Überlebenden und Angehörigen des Massakers aufzusuchen und ihre Erinnerungen aufzuschreiben. Es sind schon damals alte Leute, die nur mit Mühe aussprechen können, was sie erlebt haben. 1943, als die Deutschen kommen, sind fast nur Kinder, Frauen und Greise in Lingiades. Die meisten Männer sind bei der Walnussernte, die wenigen, die noch im Dorf sind, flüchten. "Los!", schreien die Soldaten und treiben die Menschen in die Keller. Dann wird geschossen, bis sich nichts mehr regt.

Lediglich fünf Menschen überleben das Massaker, nahezu alle Häuser werden niedergebrannt, der Ort bleibt für viele Jahre nahezu unbewohnbar. "50 Zivilisten wurden vernichtet", notiert die Wehrmacht nach ihrem Rückzug, "20 Trag-Esel erbeutet" und: "schwacher Feindwiderstand". Tatsächlich sind 83 Menschen ermordet worden. Kein Täter wurde je zur Verantwortung gezogen. Ein Staatsanwalt nennt vor dem Amtsgericht München die Aktion noch 1972 "eine unvermeidbare Folge des Land- und Luftkrieges". General Lanz, der die "Vergeltungsaktion" befohlen hat, wird Wehrexperte der FDP.

Gauck versucht vergebens, Tränen niederzukämpfen

Und jetzt steht Gauck also hier in Lingiades. Er, der es als erster Bundespräsident für nötig hält, eine Bitte um Vergebung auszusprechen für die Wehrmachtsverbrechen in Griechenland. In Deutschland gehören sie zu den eher unbekannten Kapiteln der Weltkriegsgeschichte. Gauck will das ändern, nicht nur einen Kranz niederlegen, die richtigen Worte finden. Er tut es, und weil Gauck eben Gauck ist, wird ihm die Stimme rau dabei und er versucht Tränen niederzukämpfen. Vergebens.

Eine lange Liste von Namen wird dann verlesen. Es sind die Toten, von denen viele den gleichen Nachnamen tragen. Manche Familien wurden hier nahezu ausgelöscht, in vielen überlebte nur ein einziger Mensch. Auch Panagiotis Babousikas ist so einer, er hat als Baby das Massaker überlebt, lebendig begraben unter den Leichen in einem Keller. Als man ihn damals findet, hängt er noch an der Brust seiner toten Mutter. Babousikas lebt nicht mehr in Lingiades, aber er ist für die Rede des deutschen Präsidenten angereist. Jetzt steht er hier, ein alter Herr, der ein wenig verlegen von einem Bein aufs andere tritt.

"Was hier in Lingiades und an vielen anderen Orten Griechenlands in den Jahren zwischen 1941 und 1944 geschah, verstört mich und meine Landsleute bis heute", sagt Gauck dann. "Ich wünschte, längst hätte einer gesagt, der damals Befehle gegeben und ausgeführt hat: Ich bitte um Entschuldigung." Es hat sich aber keiner entschuldigen wollen, was nach den eigentlichen Verbrechen eine "zweite Schuld" sei: die des Nicht-Wissen-Wollens. Man hat die Opfer, sagt Gauck, "sogar noch aus der Erinnerung verbannen" wollen.

Während er spricht, steht ein paar Meter weiter ein kleiner Herr mit schütterem Haar. Es ist Karolos Papoulias, der griechische Präsident, der Gauck nach Lingiades begleitet hat. Papoulias hat in dieser Region als junger Partisan die Deutschen bekämpft. Jetzt hört er sich den Deutschen an, sieht wie er kämpft, mit sich, mit den Emotionen. Papoulias verzieht keine Miene. Als Gauck dann am Ende seiner Rede angekommen ist, streckt Papoulias ihm die Hand hin - und wird sogleich umarmt. So lange, bis der Grieche sich vorsichtig aus den Armen des Deutschen befreit.

Es ist, wie gesagt, keine ganz unkomplizierte Begegnung: Dabei hatte Gauck eigentlich vorgehabt, seinem Besuch auch eine optimistische Wendung zu geben. Er trifft Existenzgründer, Auszubildende, Intellektuelle. Steht gerührt auf der Akropolis und lässt die Welt das wissen. Gauck will nicht der hässliche Deutsche sein, schon gar nicht der Zerberus der Wirtschaftsgroßmacht Deutschland.

Von Tag zwei des Staatsbesuchs an aber mögen sich die Gastgeber nicht mehr zufriedengeben mit netten Worten. Der Bundespräsident trifft den griechischen Oppositionsführer Alexis Tsipras. Es sei ja schön, findet der, dass ein Bundespräsident jetzt die deutsche Kriegsschuld in Griechenland anerkennen wolle.

Für die Bundesregierung ist die Reparationsfrage erledigt

Aber es gebe da eben auch eine materielle Dimension. Auch der ehemalige Widerstandskämpfer Manolis Glezos meldet sich zu Wort, ein Herr von 91 Jahren und großem Charisma. Glezos hat dem deutschen Präsidenten einen offenen Brief geschrieben, in dem er Deutschland auffordert, für die Verheerungen des Krieges Reparationen zu zahlen. Es sei Zeit, dass Deutschland "endlich die Mauer der Gleichgültigkeit und Härte" durchbreche.

So etwas sitzt bei Gauck, der im Laufe der Reise immer schlechter verbergen kann, wie unwohl er sich in seiner Rolle fühlt. Die Bundesregierung hält die Reparationsfrage für erledigt, und Gauck darf da keine andere Linie vertreten. Manches in seiner Haltung lässt erkennen, dass er beim Thema Wiedergutmachung für die Griechen doch wenigstens ein paar Überlegungen anstoßen möchte in Deutschland.

Als der deutsche Präsident den Dorfplatz in Lingiades verlässt, da liegt für eine Sekunde Schweigen über dem Ort. Dann rollen fünf Männer ein Transparent aus und halten es hoch. "Wiedergutmachung" steht darauf. "Gerechtigkeit!", rufen die Männer. Es ist ein Chor, der immer lauter anschwillt. Gauck sieht ihn nicht mehr. Aber er hört ihn.

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