Er wird wieder zum Jugendpfarrer. Da kann er 73 sein und Bundespräsident. Es ändert gar nichts. Kaum hat Joachim Gauck auf dem kleinen Stuhl in der Aula Platz genommen, lobt er alle, die da sind. Den Rektor, die Schüler und die erste Frage. "Dass ihr da seid, dass ihr euch so interessiert - das freut mich sehr."
Er sagt das unprätentiös, er lächelt herzlich und schaut den Schülern dabei so offen in die Augen, dass sich Distanz erst gar nicht aufbaut. Gauck ist ein Meister der ersten Begegnung.
Der Präsident besucht für zwei Tage Genf und ist auch an die Deutsche Schule gekommen. Nach einem kurzen Rundgang sitzt Gauck im Kreis mit dreißig Abiturienten und sagt allen sehr bald, worauf es ihm ankommt: dass sich Menschen für etwas einsetzen.
Genf - das ist die mondäne Schweizer Stadt mit viel Geld und einem schönen See, aber auch mit den Menschenrechtsorganisationen der Vereinten Nationen. Ihretwegen ist Gauck hergeflogen. Um das Thema will er sich fortan verstärkt kümmern. So sehr, dass er Sätze sagt wie: "Täte ich das nicht, dann würde ich mich nicht mehr mögen."
Vor den jungen Menschen freilich schwärmt er nicht von der Weltorganisation oder von Friedensnobelpreisträgern. Hier redet Gauck davon, wie man anfängt, sich für etwas zu engagieren. Niemand könne wissen, wo die Karriere eines Klassensprechers ende. "Aber wer beginnt, sich in der Schule, im Sportverein einzusetzen, der spürt, dass er was bewegen kann. Er lernt, sich was zuzutrauen. Und damit hat er schon gewonnen."
Vertrauen zurückerobert
Tief schürfende Sätze sind das nicht. Aber sie wirken. Gauck hängt die Früchte nicht oben in den Baum. Er zeigt auf die Kirschen, die sich am leichtesten pflücken lassen. Und er erinnert in dem Moment nicht an einen Präsidenten, sondern an einen warmherzigen Großvater, den man zu Rate zieht, wenn existenzielle Fragen große Nöte auslösen.
Nun wäre es natürlich eine radikale Verkürzung, wollte man Gauck mit seinen neun Enkeln und zwei Urenkeln einfach zum "Opa der Nation" ausrufen. Aber das Grundgefühl schwingt mit, seit er vor einem Jahr gewählt wurde. Wenn er in der Zeit etwas geschaffen hat, dann ist es Vertrauen. Vertrauen bei den Menschen und in sein Amt, also gerade dort, wo seine Vorgänger - Horst Köhler mit seinem Abgang und Christian Wulff mit seinem Sturz - viel Vertrauen verspielten.
Dass Gauck das gelingen konnte, hängt eng damit zusammen, wie er über Menschen und Probleme redet. Als die Schüler ihn nach der Bedeutung von Vorbildern fragen, macht er, was er oft tut: Er philosophiert nicht, er redet keine schlauen Sätze. Er erzählt aus der Zeit, als ihn im gleichen Alter die gleichen Fragen beschäftigt haben.
Zu feige für Heldentaten
Also berichtet er vom Tagebuch der Anne Frank und von jenem Pater Maximilian Kolbe, der im KZ für einen Juden in den Tod ging. Tief beeindruckt habe ihn das. Aber er räume ein, dass er die Frage, ob er das selbst tun könne, verneinen müsse. Er hänge zu sehr am Leben. Anders ausgedrückt: Da sagt einer offen, dass er zu feige ist für Heldentaten. Gauck legt seine eigene Begrenztheit offen, um es den Jugendlichen leichter zu machen, über sich und ihr Suchen nachzudenken.
Wer Zeuge solcher Momente wird, versteht, was diesen Präsidenten ausmacht. Ob er hier ist oder in einem Altersheim, ob er Ehrenamtliche auszeichnet oder vor Einwanderern redet - Gauck begegnet allen mit Wärme und redet auch über seine Ängste und Lernprozesse. Das schafft ein Gefühl von Verstehen, als lege er seinem Gegenüber eine wärmende Decke um die Schulter. Als er in Genf vor dem Menschenrechtsrat spricht, sind es die persönlichen Passagen, für die ihm später viele mit Handschlag danken. Das sind nur Momente aus einem Jahr Amtszeit. Aber sie zeigen im Kleinen, wie er dem Amt Würde zurückgeben konnte. Das hat wenig zu tun mit einem gravitätischen Auftreten.