Gauck begeistert bei Lesung:"Und das Wasser kam aus meinen Augen"

Spricht hier der neue Bundespräsident? Joachim Gauck, 2010 noch Gegenkandidat von Christian Wulff, verweigert jede Aussage über seine Zukunft und liest bei einem Auftritt im Theater Koblenz nur aus seinem Buch. Wer sich das entgehen lässt, ist allerdings selbst schuld. Gauck blickt mit gnadenloser Offenheit auf sein Leben zurück und zeigt, warum ihn so viele Menschen für einen geeigneten Bundespräsidenten halten.

Marc Widmann, Koblenz

Mit dem Intercity ist Joachim Gauck nach Koblenz gefahren, er trägt eine Papiertüte unterm Arm und amüsiert sich über die Reporter am Bahnsteig, die da am Freitagabend schon auf ihn warten: "Sind Sie extra wegen mir gekommen?", fragt er und schaut verschmitzt. Er halte doch nur eine ganz gewöhnliche Lesung, er werde nichts sagen.

Vor dem Theater haben sich die Fernsehteams versammelt, nur vier. Wenn Joachim Gauck tatsächlich Bundespräsident werden sollte im zweiten Anlauf, werden es bald mehr sein. Jetzt gibt er sich erst mal völlig überrascht. "Das ist ja unglaublich", ruft der 72-Jährige, als er vor dem Bühneneingang aus dem Taxi steigt und sofort umlagert wird. Vor jeder Frage schweigt er einen Augenblick und überlegt, was er jetzt sagt.

Wie er den Rücktritt von Christian Wulff sehe? "Ich begleite das nicht mit positiven Gefühlen", sagt Gauck. Er habe während einer Veranstaltung mit 300 Schülern davon erfahren, eine 17-Jährige habe ihm die Nachricht von ihrem Handy vorgelesen. Ist das ein trauriger Tag für die Demokratie? Dazu sage er nichts, sagt Gauck. Ob er denn bereitstehe als Bundespräsident? "Eine Antwort wäre für Sie zu schön - aber Gauck sagt nach wie vor nichts", sagt Gauck und wirkt recht fröhlich dabei. Ein Reporter probiert es noch mal andersrum: Was er jetzt von der Kanzlerin erwarte? "Sie soll Deutschland weiter so tüchtig regieren und offen sein für die Idee Europas."

Nein, da ist nichts zu holen für die Abendnachrichten. Gauck rät den Reportern, sie könnten unbesorgt Feierabend machen, es werde ein langweiliger Abend für alle, die News erwarten.

Wer ging, war allerdings selbst schuld. Denn die nächsten eineinhalb Stunden im Koblenzer Theater zeigten, warum so viele Menschen Gauck für einen geeigneten Bundespräsidenten halten. Mit tiefer, leicht rauer Stimme las, nein erzählte da ein Mann aus seinen Erinnerungen, der nicht nur ein hartes Leben hatte, sondern auch mit gnadenloser Offenheit darauf zurückblickt.

Die Bühne ist leer bis auf einen kleinen Tisch, ein Glas Wasser - und Gauck. Der sitzt da, korrekt im Anzug, und erzählt zuerst, wie ihn vor zwei Jahren eine Schreibblockade überfiel. "Draußen spiele ich ne Rolle, mache was her, aber drinnen beim Schreiben ging gar nichts mehr", so offenbart er sich gleich zu Beginn. Eine Freundin half ihm, doch noch eine Struktur zu finden.

An einer Stelle, erzählt er, konnte er sich dann "gar nicht mehr einkriegen" beim Schreiben: Als er noch einmal durchlebte, wie seine Kinder aus der DDR ausreisten und er zurückblieb, verlassen. "Das war so lebendig, dass ich während des Schreibens plötzlich sehr viel Wasser auf dem Papier fand. Und das Wasser kam aus meinen Augen."

Die Lesung hat noch gar nicht richtig begonnen, da ist man schon mitten in seinem Leben. Und bei den Lehren, die Gauck daraus zieht. Früher, sagt er, "habe ich immer gedacht, dass man schwach wird, wenn man trauert". Deshalb habe er sich alle dunklen Gefühle verboten. Inzwischen habe er gemerkt, dass ihm die Trauer geholfen habe, "tiefer zu mir selbst zu kommen". Soll heißen: Er ist mit sich im Reinen. Deshalb sei er auch auf den Boden geblieben, 2010, als dieser seltsame Anruf kam, wie er es nennt. Als man ihn fragte, ob er Staatsoberhaupt werden wolle.

Von Gefängnis zu Gefängnis

Dann liest er: Wie sein Vater 1951 in Rostock abgeholt wurde von zwei Männern in Zivil. Wie seine Oma wochenlang von Gefängnis zu Gefängnis fuhr, ohne Ergebnis. Wie er in dieser Zeit begann, für seinen Vater zu beten, obwohl die Familie gar nicht so religiös war. Und wie er in dieser Zeit schon als Kind politisiert wurde, weil ihm in der Schule die Lehrer von den "tollen Typen" an der Staatsspitze erzählen, und er zu Hause doch nur in die verweinten Augen seiner Mutter sah.

So spricht er wirklich: tolle Typen.

Als sein Vater aus Sibirien zurückkam, Jahre später, hätte er sich eigentlich freuen müssen, sagt Gauck. Aber er freute sich nicht, er hatte den Vater längst ersetzt in der Familie. "Nun kam der Platzhirsch zurück und ich verschwand wieder im Kinderzimmer. Das war nicht lustig."

Da weiß der Saal nicht, ob er schlucken oder kichern soll. Er kichert, so wie er immer wieder kichern muss, weil Gauck gerade an den härtesten Stellen gerne ein Scherzchen reißt und verschmitzt ins Publikum blinzelt. Er predigt nicht, obwohl er Pfarrer war. Er erzählt offen, tiefgründig und ein bisschen eitel - geschenkt.

Nach eineinhalb Stunden, nach gefühlten zehn Minuten, klatschen sie im Koblenzer Theater, sie hören gar nicht mehr auf und erheben sich schließlich von ihren Plätzen. Dann reihen sie sich geduldig ein in die Schlange und lassen ihn sein Buch "Winter im Sommer - Frühling im Herbst" signieren, einige bitten ausdrücklich, dass er auch das Datum aufschreibt: Den historischen Tag, an dem ein Bundespräsident zurücktrat und sie womöglich seinem Nachfolger lauschten, der vor ihnen sein Leben ausbreitete.

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