Gastkommentar:Zeit für Antworten

Lesezeit: 3 min

Die Krise als Dauerzustand: Europa taumelt seit dem Jahr 2009 von einem Problem zum nächsten. Doch die politisch Verantwortlichen vertrauen lieber auf den Zwang der Umstände als darauf, strategisch zu steuern.

Von Joschka Fischer

Seit 2009, als die von Amerika kommende Finanzkrise die Euro-Zone in ihren Grundfesten erschütterte, scheint der Krisenmodus die neue Normalität Europas geworden zu sein. Denn seitdem folgt Krise auf Krise, und nichts spricht dafür, dass sich dies in naher Zukunft ändern wird.

Finanzkrise, Griechenlandkrise, die Okkupation und Abtrennung der Krim durch Russland mit militärischer Gewalt, der sich daran anschließende Krieg im Osten der Ukraine und die wiederaufgelebte Konfrontation zwischen dem Westen und Russland, kurz gesagt eine Sicherheitskrise, 2015 die Flüchtlingskrise. Und am 23. Juni wird in Großbritannien eine Volksabstimmung darüber entscheiden, ob einer der wirtschaftlich stärksten und militärisch wichtigsten Mitgliedstaaten der EU diese verlassen wird, ob es zum Brexit kommt oder nicht.

Zudem hat sich in den meisten EU-Mitgliedstaaten eine Vertrauenskrise gegenüber Europa und seinen Institutionen entwickelt, die in einem Erstarken von nationalistischen Parteien und Ideen in den meisten Mitgliedstaaten und einem Erlahmen der Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten ihren Ausdruck findet. Die Renationalisierung Europas nimmt weiter Fahrt auf. Diese Krise ist die gefährlichste, sie droht Europa zu zersetzen und die Seele des europäischen Projekts zu zerstören.

Die politischen Führer der EU haben sich seit der Finanzkrise dazu entschieden, auf den Krisenmodus und damit auf den Zwang der Umstände zu vertrauen und Europa nicht strategisch zu steuern. Denn Europa weiter strategisch voranzubringen hätte bedeutet, eine Strategie zu entwerfen und eine Vision, welches Europa man eigentlich will und wie man es zu erreichen gedenkt, und die notwendigen Kompromisse einzugehen, die innenpolitisch in allen Mitgliedsstaaten ein politisches Risiko mit sich bringen würden.

Die Antwort war, lieber kein politisches Risiko einzugehen, sondern die Realität der verschiedenen Krisen für sich arbeiten zu lassen, also auf den Zwang der Verhältnisse zu vertrauen. Aber auch diese aus politischer Feigheit geborene Vorgehensweise hat ihren Preis. Denn eine EU, die sich nur im Krisenmodus bewegt, gibt ein furchtbares Bild bei den Bürgerinnen und Bürgern ab und führte so zu einer massiven demokratischen Vertrauenskrise.

Die EU gilt heute bei vielen Bürgern nicht mehr als die Lösung für die Probleme, sondern als Teil des Problems. Europa ist zuerst und vor allem eine Idee. Und nach fast sechs Jahrzehnten erfolgreicher europäischer Integration auch eine politische, institutionelle und rechtliche Realität und sehr viel Alltag für die Wirtschaft und auch die Gesellschaft. Aber die Zukunft wird sich an der Vitalität seiner Idee, seiner Seele entscheiden. Denn stirbt diese in den Bürgern und Völkern der Union, wird das ganze Projekt sterben. Dies wird nicht mit einem Knall geschehen, sondern eher einem langen Siechtum ähneln.

Es kann so nicht weitergehen mit Europa, es geht um zu viel. Das wichtigste Projekt, sechzig Jahre erfolgreiche europäische Integration in Frieden, Freiheit und auf der Grundlage des Rechts, stehen auf dem Spiel, und damit die Zukunft unseres Kontinents. Eine Politik der kleinen Schritte reicht dazu nicht mehr. Ohne eine erneuerte Vision und eine wirksame Politik der Krisenbewältigung werden die neuen (und alten) Nationalisten stärker und das Projekt von innen heraus gefährden.

In der Euro-Zone wird der Graben zwischen Deutschland und den anderen Mitgliedern breiter

Das britische Referendum am 23. Juni wird richtungsweisend sein, für das Vereinigte Königreich und die gesamte EU. Danach gibt es entweder das große Durch- und Aufatmen - was ich hoffe - oder eine große Krise, welche die EU erschüttern und Großbritannien ins Unglück stürzen wird. Aber wie auch immer die Briten entscheiden werden, danach müssen die vielen Krisen angegangen werden. Die Finanzkrise ist mitnichten ausgestanden, sie kommt nur in politischen Gewändern daher: Portugal, Spanien und Irland haben gezeigt, dass demokratische Mehrheiten nicht länger bereit sind, die Austeritätspolitik hinzunehmen. Und auch die Griechenlandkrise kehrt zurück.

Schaut man auf die Euro-Zone, so muss man, trotz einer sich abzeichnenden moderaten wirtschaftlichen Erholung, feststellen, dass der Graben zwischen Deutschland (das aufgrund seiner wirtschaftlichen Stärke eine Aufwertung und den Abbau seines Außenhandelsüberschusses bräuchte) und den meisten anderen Mitgliedern des Euro (die eine Abwertung und dringend Wachstum generierende Impulse bräuchten) immer breiter wird. Von Konvergenz wird in der Euro-Zone nicht mehr gesprochen. Dabei ist klar, dass, wenn der Euro scheitert, auch das europäische Projekt scheitern wird und dass der Euro, selbst mit den technischen Verbesserungen der Krisenjahre, so lange nicht krisenfest sein wird, wie es keinen erneuerten Kompromiss zwischen Deutschland und den anderen Mitgliedern der Euro-Gruppe gibt. Faktisch wird das auf eine Neugründung der Euro-Zone mit vertiefter politischer Integration hinauslaufen, das ist alles andere als eine Kleinigkeit.

Dasselbe gilt für die Sicherheit der Union, für den Schutz der Außengrenzen und eine erneuerte europäische Flüchtlingspolitik. Es wird also Politik gefragt sein, europäische Politik. Dazu wird es auch einer erneuerten Vision des gemeinsamen Europas im 21. Jahrhundert und seiner Werte bedürfen, und darüber, was Europa leisten kann und muss und wie es dazu verfasst sein muss, welcher Institutionen und Macht es bedarf. Vor Krisen muss man sich nicht fürchten. Sie schaffen Bewegung und sind Chancen, stärker zu werden, wenn man sich ihnen ohne Angst vor den politischen Risiken stellt. Nachdem Großbritannien abgestimmt hat, wird Europa darauf antworten müssen, mutig, visionär, lösungsorientiert. Der Nationalismus hat keine Antworten für die Zukunft unseres Kontinents; diese werden allein die Europäer zu liefern haben.

Joschka Fischer war von 1998 bis 2005 deutscher Außenminister und Vizekanzler. Copyright: Project Syndicate, 2016.

© SZ vom 07.05.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: