Gastkommentar:Wir, die Verräter

Recep Tayyip Erdoğan führt Krieg: gegen die Kurden, gegen die Opposition in der Türkei. Leider bietet die Regierung keinem Teil der Gesellschaft Lösungen an. Wer den Dialog will statt Blut und Tränen, wird zum Feind gemacht.

Von Zülfü Livaneli

Ich möchte über die Lage der Türkei schreiben und erinnere mich dabei an den einprägsamen Titel des Romans von Erich Maria Remarque: "Im Westen nichts Neues". In meinem Land werden Gewohnheiten auch einfach fortgesetzt, werden Außenpolitik und Militär für innenpolitische Zwecke missbraucht. So wird wieder einmal versucht, die Türken durch nationalistische Reden zu begeistern, und dies aus wahltaktischen Gründen. Die außenpolitischen Themen, die dazu benutzt werden, wechseln. Zypern dient dazu von Zeit zu Zeit, dann wieder Russland, manchmal Griechenland - und jetzt Syrien und die Kurden. Das System, das dahintersteckt, aber ändert sich nicht. Man geht auf die Jagd nach Wählerstimmen, indem man das Volk durch eine nationalistische Sprache aufpeitscht.

Im kommenden Jahr gibt es eine außerordentlich wichtige Wahl in der Türkei. Der Staatspräsident wird direkt vom Volk gewählt, und der Kandidat, der gewinnen will, muss mehr als die Hälfte der Stimmen erhalten. Recep Tayyip Erdoğan versucht seinen Wahlsieg zu sichern, in dem er die Wähler polarisiert. Er vergleicht die aktuelle türkische Militäroperation in Nordsyrien mit dem türkischen Befreiungskrieg in den Zwanzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts, der in den Augen des Volkes heilig ist. Erdoğan tritt in der Rolle des Oberkommandierenden auf. Mit der ultranationalistischen Partei MHP an seiner Seite formt er eine "Nationale Front" und versucht, die kemalistische Oppositionspartei CHP und die kurdische Partei HDP mit der PKK zu identifizieren: Hier steht die "Nationale Front" - dort stehen die "Landesverräter".

Zu Landesverrätern werden alle erklärt, die den Krieg und die vulgären nationalistischen Parolen nicht unterstützen. Ich bin einer davon. 170 Menschen - darunter ehemalige Minister, Abgeordnete, Autoren und Künstler - haben schon vor Beginn der türkischen Syrien-Operation einen unschuldigen Brief an die Abgeordneten des türkischen Parlaments verfasst. Wir riefen sie darin zur Vernunft auf und zur Suche nach einer friedlichen Lösung. Der Brief wurde als "Landesverrat" bezeichnet, wir wurden im Fernsehen und in regierungsnahen Zeitungen sozial geächtet. Ein unschuldiger Friedenswunsch wurde zu einem schrecklichen Verbrechen stilisiert.

Die türkische Ärztekammer verfasste ebenfalls eine solche Erklärung, auch sie wurde von der Regierung verteufelt. Die Polizei durchsuchte die Zentrale der Ärztekammer und nahm die gesamte Führung fest. Die Methode ist bekannt: Die Regierung setzt sich selbst mit dem "Vaterland" gleich und brandmarkt die ganze Opposition als "Verräter". Das Schlimme daran ist, dass die Propaganda wirkt. Die nationale Welle im Volk hat gefährliche Dimensionen erreicht. Die Intellektuellen gelten sozusagen als geborene Verräter. Und viele Leute, die der Regierung nahestehen, sind fast so weit, auf den Straßen auf "Verräter"-Jagd zu gehen.

Leider bietet die Regierung keinem Teil der Gesellschaft Lösungen an. Sie provoziert stattdessen lieber auch diejenigen, die einen Dialog wollen statt Blut und Tränen. Es hieß früher oft, die Türkei sei dreigeteilt: in religiöse Fundamentalisten, Laizisten und Kurden. Die Zunahme der Spannungen zwischen diesen Gruppen vergiftet nun die Atmosphäre im Land und sorgt für eine schreckliche Hoffnungslosigkeit - für alle. Sogar jene Intellektuellen, die ich früher kritisiert habe, weil sie Erdoğan unterstützten, sind heute im Gefängnis, im Exil oder irgendwo, wo sie hoffen, vergessen zu werden.

Unsere Generation hat ihr Leben mit Militärputschen verbracht, in Gefängnissen, mit systematischer Folter oder im Exil. Wir haben Freunde verloren durch unaufgeklärte Morde. Die Armee galt uns lange als das wichtigste Hindernis für die Demokratie. Wenn wir die Militärputsche der türkischen Streitkräfte mit den Putschen in anderen Ländern vergleichen, sehen wir einen seltsamen Unterschied. In Spanien, Portugal oder Südamerika blieben die Offiziere und ihre faschistischen Regime meist Jahrzehnte an der Regierung. In der Türkei jedoch versprachen sie schon am Tag ihrer Machtübernahme, dass sie das Regieren bald wieder den Zivilisten überlassen würden. Sogar bei der Bekanntgabe ihres Coups gaben sie sich, untermalt von Beethovens Schicksals-symphonie, verschämt und scheu - anders als die Francos, Salazars und Pinochets.

Die Religion verbündet sich mit dem Nationalismus. Das lässt das Schlimmste befürchten

In Wirklichkeit aber hat das Militär nach dem Putsch von 1980 und der Beendigung seines Regimes weiter die Mentalität und das politische Leben im Land beeinflusst; nur sahen wir keine Offiziersschulterklappen mehr. Mir kommen die Bilder der stolzen Obristen der Militärjunta in Griechenland in den Sinn, orthodoxe Geistliche an ihrer Seite, die Weihrauchgefäße schwenken und die Soldaten segnen. Der Faschismus dort stützte sich auf den Dreiklang Waffen, Kapital und Religion. Die Putschisten bekamen Unterstützung vom großen Kapital und von der Religion. Deshalb dauerten diese Diktaturen lange.

In der Türkei fehlte bislang eines dieser drei Elemente. Die Armee und das große Kapital waren sich einig in ihren nationalistischen Reflexen, doch wegen der laizistischen Tradition des Militärs blieb die Religion außerhalb dieser Solidarität. Das Militär aber hatte durchaus Sympathien für die Religion. Während des Kalten Krieges unterstützte es religiöse Fundamentalisten - gegen den Feind Nummer eins: die Linke. Die Generäle sagten: "Finger an der Gebetskette sind besser als Finger am Gewehrabzug." Es wurden viele religiöse Schulen eröffnet, aber die Unterstützung geschah eher im Verborgenen.

Heute registrieren wir genau hier den qualitativen Wandel. Alle Faktoren für den klassischen Faschismus sind vorhanden: Die Religion hat sich mit dem Nationalismus verbündet. Auch das Kapital steht an ihrer Seite, wobei viele Unternehmen den Besitzer gewechselt haben. Man kann also damit rechnen, dass der Faschismus, der Demokratie und Menschenrechte mit Füßen tritt, länger besteht. Kurzfristig habe ich keine Hoffnung auf eine Veränderung in der Türkei.

Zülfü Livaneli, 71, ist einer der bekanntesten türkischen Schriftsteller. Seine Romane sind Bestseller in seiner Heimat, sie wurden in viele Sprachen übersetzt. Er lebt in Istanbul. Übersetzung: Selçuk Salih Caydı

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