Gastkommentar:Vorbild Estland

Die baltische Republik macht vor, wie die Digitalisierung den Alltag erleichtern kann. Deutschland sollte daraus lernen.

Von Florian Hartleb

Die Wirtschaftsmacht Deutschland ist noch nicht in der digitalen Welt angekommen. Im EU-Vergleich steht die Bundesrepublik nur auf Platz 10, bei öffentlichen Dienstleistungen gar nur auf Platz 19. Eher verkrampft wirken die politisch subventionierten Bemühungen, die vierte industrielle Revolution ("Industrie 4.0") auszurufen. Deutschland hat, von Unternehmen wie SAP abgesehen, in der IT-Industrie wenig zu melden und liegt in Europa bei der Breitbandversorgung weit zurück. Bürokratie und Kosten erschweren den Zugriff auf staatliche Fördertöpfe. Bei Themen der Netzpolitik, zum Beispiel Open Source in der öffentlichen Verwaltung, tut sich wenig.

Dabei gibt es die digitale Zukunft Europas längst - wir müssen nur über die Grenzen schauen. Das kleine Estland ist ein Labor in Sachen IT und beim E-Government, also der Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung, Deutschland um Längen voraus. Vor 25 Jahren war Estland noch eine Sowjetrepublik. Nach der Unabhängigkeit musste das Land allein durch den schmerzhaften Prozess der Transformation. Heute ist die baltische Republik mit nur 1,3 Millionen Einwohnern digitaler Trendsetter. Reisen Deutsche oder andere Europäer in das dynamische Land, stellen sie erst einmal kritische Fragen, schütteln verblüfft den Kopf oder verweisen auf die Kleinheit des Landes. Wer sich hingegen mit den Einheimischen unterhält, hört durchweg Positives. Weltbank und Weltwirtschaftsforum stufen Estland regelmäßig als eines der Länder ein, in denen sich Geschäfte am einfachsten und effizientesten abwickeln lassen. Die Sim-Karte als Personalausweis? Ohne Bargeld zahlen? Parken ohne Parkzettel? Parlamentswahlen per e-Voting? Firmengründung fast ebenso schnell online, ohne Notar und andere Hürden? Alles kein Problem. Weit mehr als hundert staatliche Dienstleistungen können Esten mit dem elektronischen Ausweis in Anspruch nehmen.

In Deutschland fehlt eine breite Debatte darüber, wie Digitalisierung den Alltag erleichtern kann. Diese flammte nur kurzzeitig mit dem Erfolg der Piratenpartei auf. Hier wird seit Monaten darüber diskutiert, wer die Kosten für den Breitbandausbau tragen soll und ob es nicht an der Zeit wäre, durch die Abschaffung der Störerhaftung freie Wlan-Hotspots zu fördern. Für einen Esten wirkt das kurios. Schon seit 2000 hat dort jeder Bürger einen verfassungsmäßigen Anspruch auf das Internet. Kostenloses Wlan gibt es fast überall. In der Hauptstadt Tallinn zeigt das Smartphone überall neue Verbindungen. Hanse und Hightech also: Wlan gibt es in allen Straßenbahnen oder Bussen, selbst an Haltestellen und auf dem Land. Der fast flächendeckende Mobilfunkstandard 4G soll 2016 noch schneller werden.

In Zeiten des E-Government ist der Beruf des Steuerberaters fast unbekannt

Die Regierung arbeitet seit Jahren ganz selbstverständlich und unaufgeregt papierlos. Minister mit Aktenbergen unter den Armen - in Estland anachronistisch. Hierzulande mühen sich Politiker eher, durch Facebook und Twitter innovativ zu wirken. Als IT-tauglich gilt schon, wer sein Smartphone hektisch-gelangweilt im öffentlichen Raum nutzt.

Die estnischen Regierungen versuchen, beraten von IT-Experten, Zweifel an der Sicherheit der Daten zu zerstreuen. Ein Cyberangriff aus Russland 2007 hat das Land nachhaltig für Risikominimierung und Sicherheit sensibilisiert. Das System ist so angelegt, dass der Bürger jedes Mal, wenn etwa die Polizei auf Daten zugreift, informiert wird. In Estland bleibt auch der Patient Herr über seine eigenen Informationen. Arztbesuche, Medikamente und Befunde werden in einer digitalen Patientenakte gespeichert. Ärzte und Kliniken können alle wichtigen Informationen einsehen - aber nur, wenn sie die Erlaubnis des Patienten haben. Rezepte auf Papier gibt es kaum mehr, ebenso wenig lange Wartezeiten. Mit einer persönlichen ID-Nummer können sich Bürger bei Behörden, bei der Bank, beim Schließen von Verträgen und beim Arzt ausweisen. Die digitale Signatur gilt so viel wie die handschriftliche.

Während sich in Deutschlands Schulen Schüler um einen Computer balgen, bekommt in Estland jeder kostenlos ein Gerät zur Verfügung gestellt. Mittlerweile lernen schon Grundschüler Programmieren. Noten, Fehlstunden, Hausaufgaben und Lehrpläne werden auf einer zentralen Plattform gespeichert. Für die Schüler hat das nur Vorteile. Sie müssen verpassten Unterrichtsstoff nicht mehr bei Freunden erfragen, denn sie haben online Zugang zu allen Lernmaterial.

Auch Ausländer können in Estland als "E-Resident" auf das System zugreifen und etwa ein Bankkonto eröffnen. Diese Erleichterungen sollen einen Boom an Firmengründungen ermöglichen. Schon jetzt hat Estland die meisten Start-ups pro Einwohner in Europa. Die Digitalisierung erspart weitgehend Behördengänge. Der in Deutschland prestigeträchtige Beruf des Steuerberaters ist weithin unbekannt. Verschiedene Behörden sammeln die Daten schon im Jahresverlauf. Der Steuerzahler wählt sich dann lediglich mit seiner digitalen Identitätskarte auf einem zentralen Portal ein, nimmt eventuell Änderungen vor und unterzeichnet digital. 95 Prozent der Steuererklärungen wurden im letzten Jahr auf diesem Weg abgegeben. Innerhalb von fünf Tagen bekommt der Bürger seinen Bescheid. Ganz anders die deutsche Realität. Ausgerechnet das Bundeszentralamt für Steuern verschwendet besonders viel Geld - wegen fehlender Computer.

Wollen wir im Deutschland dem Vorbild Estlands folgen? Die Bürger würden es schnell spüren und danken. Wer schon einmal mehrere Stunden auf einem Amt verbracht hat oder für Behördengänge sogar Urlaub nehmen muss, versteht den Wunsch, den Alltag zu vereinfachen. Oder haben mit den Enthüllungen von Edward Snowden und der neuerlichen NSA-Debatte die Skeptiker gewonnen? Wird die notwendige Digitalisierung in Wirtschaft und Staat weiter verzögert oder gar blockiert?

Florian Hartleb, 35, ist Politologe und lebt als E-Resident in Estland.

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