Süddeutsche Zeitung

Gastkommentar:Vorbei

James Levine missbrauchte junge Menschen sexuell. Und unterwarf sie seiner Herrschaft. Das ist ekelhaft. Doch seine Musik strahlt genauso wie zuvor.

Von Carolin Emcke

Es ist vorbei. Die Metropolitan Opera in New York hat diese Woche ihren Dirigenten und musikalischen Direktor James Levine entlassen. Vorbei die allmächtige Position, mit der Levine 40 Jahre lang die Geschicke an der "Met" dominieren konnte. Vorbei die Aura des Unantastbaren. Vorbei die Angst der Opfer, ihre Aussagen und ihr Schmerz blieben ignoriert. Im Dezember, als die New York Times den Generaldirektor der Met, Peter Gelb, mit konkreten Missbrauchsvorwürfen konfrontierte, wurde Levine suspendiert und die Ermittlungen wurden an eine Anwaltskanzlei übergeben. Nun, nach drei Monaten der Recherche und Befragung von rund 70 Personen, kam die Met zu dem Ergebnis, dass es "glaubwürdige Beweise" für sexuellen Missbrauch und Belästigung durch Levine gäbe. Vorbei also auch die Untätigkeit der verantwortlichen Akteure.

Leider wurden die Details der Erkenntnisse über Levine nicht öffentlich gemacht. Über wie viele Jahre hinweg, an welchen Orten, wie viele ehemaligen Schüler, Studenten und Musiker Levine sexuell belästigt und ausgebeutet hat, das lässt sich immer noch nicht sagen. Was sein Agent, was die Pressestelle der Oper, was der Aufsichtsrat gewusst haben, hätten wissen können, nicht wissen wollten, das lässt sich nur vermuten.

Wie Levine agiert hat, lässt sich aus den entsetzlichen Geschichten der Zeugen und mutmaßlichen Opfer entnehmen, die sich amerikanischen Zeitungen gegenüber offenbart haben. So muss nun als glaubwürdig gelten, was Albin Ifsich dem Boston Globe erzählte: Wenn es nur einen Menschen auf der Welt zu retten gäbe, habe Levine ihn, den jungen Studenten, 1968 am Cleveland Institute of Music gefragt, wen würde er wählen? Seine Mutter oder ihn, James Levine? Und als wäre die Frage nicht schon widerwärtig genug, habe Levine hinzugefügt: "Wenn Du Deine Mutter wählst, gehst Du durch diese Tür und siehst mich nie wieder."

Niemals sei eine Absage, ein Widerspruch, ein Nein vom Dirigenten akzeptiert worden

Glaubwürdig also auch, was Chris Brown und James Lestock, beide Studenten der Meadow Brook School of Music in Michigan, der New York Times über ihre Zeit mit dem Dirigenten erzählten: wie Levine sie einzeln sexuell bedrängt und belästigt, wie der Lehrer wechselseitiges Masturbieren von den Studierenden verlangt habe, wie sie dazu die Augen verbunden bekamen, weil das angeblich "freieres" Musizieren ermögliche.

Niemals, so beschreiben es alle, sei eine Absage, ein Widerspruch, ein Nein von Levine ungestraft akzeptiert worden. Das Regime Levine war totalitär. "Wenn Du Deine Mutter wählst ..." - die Logik der Erpressung war explizit und hemmungslos. Wer immer sich weigerte, wurde ausgesondert aus dem Zirkel der Meisters, wurde abgelegt wie ein nutzlos gewordenes Ding. Glaubwürdig demnach auch, mit welch entgrenztem Kontrollwahn Levine die jungen Menschen seiner Herrschaft unterwarf: Sie sollten den Kontakt zu ihren Eltern reduzieren, Beziehungen aufkündigen, alles, wirklich alles, was nicht von Levine als erforderlich definiert wurde, gehörte verbannt. Wenn die Berichte stimmen, dann muss man sagen: Die sexuelle Selbstbestimmung seiner Studenten zu brechen, das gehörte für James Levine zu seiner perversen Form musikalischer Ausbildung. Inwiefern für die Opfer die Musik, die sie in jener Zeit einstudierten, auf immer mit der Scham der sexuellen Erniedrigung verkoppelt wurde, das lässt sich nur erahnen.

Und das will niemand bemerkt haben? Es habe immer nur Gerüchte gegeben, heißt es allenthalben als Entschuldigung, aber keine gesicherten Beweise. Aber Gerüchte bleiben Gerüchte, wenn niemand ihnen nachgeht, Gerüchte lassen sich bagatellisieren als lächerlich, Gerüchte lassen sich denunzieren als böswillig, Gerüchte lassen sich als Gerüchte pflegen und so die eigene Tatenarmut respektabel erscheinen. Das Gerücht, das nie geprüft wird, das nie als wahr oder falsch bewiesen wird, es kann den Ruf einer unschuldigen Person beschädigen, es kann auch die feigen Mitwisser eines Wiederholungstäters schützen.

Man hört seine Einspielungen nun genauer, aufmerksamer, vielleicht auch misstrauischer

Gewiss, es ist der soundsovielte Fall eines Künstlers, der seine Macht ausnutzte, um andere Menschen sexuell auszubeuten und zu belästigen. Aber durch die schiere Quantität des Missbrauchs verringert sich die Qualität meines Ekels nicht. Ich gewöhne mich nicht daran. Vielleicht liegt es an meiner Liebe zur Musik, dass mich die Geschichte von James Levine besonders anwidert. Was nun? Muss ich die Einspielungen von James Levine aus meinem CD-Regal entfernen? Muss ich aufhören, seine Musik zu hören? Ich glaube nicht an die Parallelität von Werk und Person, glaube nicht daran, dass sich ethische Vergehen der privaten Person eines Künstlers automatisch übertragen lassen auf seine Kunst, als gäbe es eine Art Sippenhaft des Werks. Aber ich kann auch nicht sagen, dass das Wissen über die manipulative Brutalität von James Levine nicht meine Wahrnehmung beeinflusste.

Ich will mir nicht nehmen lassen, seine Musik zu hören, ja, in gewisser Weise fühle ich mich auch verpflichtet, seine Einspielungen zu hören, genauer, aufmerksamer, vielleicht auch misstrauischer. Nicht die Musik, die James Levine interpretiert hat, ist verwerflich geworden, sie strahlt genauso wie zuvor. Aber die Geschichten des Missbrauchs liegen nun assoziativ darunter, wie ein düsterer Basso continuo, der sich nicht mehr wegdenken lässt. Es ist dann doch nicht vorbei.

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Quelle:
SZ vom 17.03.2018
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