Süddeutsche Zeitung

Gastkommentar:Verlierer

Das Gerede von den Abgehängten, die zur Gefahr für Fortschritt und Freiheit werden, ist menschenverachtend. Dieses Gerede zeugt von einem Triumph des Neoliberalismus.

Von Karl-Markus Gauss

Zuerst hat der Verlierer alles eingebüßt, was ihm in der Gesellschaft einen geachteten Platz sicherte, und am Ende hat er auch noch seine Ehre verloren. Gewohnheitsmäßig wird sie ihm heute von denen abgesprochen, die sich die unerfreulichen politischen Entwicklungen nicht mehr anders erklären können als durch sein unheilvolles Wirken in der Welt; und durch die schlichte Tatsache, dass es inzwischen so viele von seinesgleichen gibt. Fast scheint es, die Verlierer wären ausgerechnet zur Macht geworden, als sie zu Verlierer wurden.

Der Verlierer ist inzwischen eine omnipräsente Figur in der politischen Debatte. Wer ist für das Erstarken der Populisten verantwortlich? Der endemisch auftretende Verlierer, der sich aus zielloser Wut den simplen Botschaften der Populisten ergeben hat, ja, diese geradezu anstachelt, in seinem Namen gegen zivilisatorische Normen zu verstoßen, Feindbilder zu erschaffen und rhetorisch ruchlos wider Konventionen und Übereinkünfte zu predigen.

Der Begriff müsste sozial interessierten Menschen verdächtig sein

Und wer befeuert den neuen Nationalismus in den kleinen und großen Staaten? Die Verlierer, die so dumm sind, auf die Versprechen der Nationalisten hereinzufallen. Mit ihrer Sehnsucht nach der vermeintlich geordneten Welt von gestern, als die Dinge noch einfach und übersichtlich und sie keine Verlierer, sondern geachtete Mitglieder der Gesellschaft waren, weigern sie sich, die Realitäten zu Kenntnis zu nehmen.

Die Verlierer sind dumm, weil sie die ökonomischen Prozesse, die sie aus ihrer einst sicheren Position und bequemen Lage beförderten, nicht verstehen wollen, und sie sind ignorant, weil sie sich sträuben, diese Prozesse und ihre eigene Marginalisierung zu akzeptieren. Sie begreifen die Veränderungen nicht, die vom industriellen zum digitalen Zeitalter eingetreten sind, und bockig möchten sie nicht von einer Zukunft schwärmen, die sie nicht haben.

Das wäre weiter nicht schlimm, und sie könnten sich getrost in ihrer Verbitterung einrichten, wenn es unangenehmerweise nicht etwas gäbe, das sie sich neuerdings schamlos zunutze machen: nämlich das allgemeine und gleiche Wahlrecht. Während sie sonst gar nichts mehr gelten, zählt bei Wahlen die Stimme der Verlierer immer noch gleich viel wie die der Gewinner oder all jener, über die immerhin nicht der soziale Abstieg verhängt ist; und das ist ein Ärgernis, weil der Verlierer seit einiger Zeit nicht mehr die richtigen Leute zu wählen pflegt. Wer hat Trump an die Macht gebracht?

Der weiße Arbeiter, der im Rostgürtel der Staaten über Jahrzehnte für schwere Arbeit im Stahlwerk oder an den Fließbändern der Fabriken so viel verdiente, dass er mit den Seinen zwar nicht in Saus und Braus, aber immerhin in langsam wachsendem Wohlstand leben konnte. Jetzt, da er nicht nur arbeitslos geworden ist, sondern erfährt, dass er schlichtweg überflüssig ist, jubelt er dem zu, der ihn und seine Sorgen niemals beachtet hat, bis er draufkam, dass er mit ihnen sein eigenes politisches Geschäft betreiben kann. Auf wen stützt sich Marine Le Pen, die das wahre Frankreich beschwört, indem sie dessen besten Traditionen den Garaus bereiten möchte? Auf die ausgemusterten Industriearbeiter, die in Konkurs gegangenen Gewerbetreibenden, auf die Verlierer in der Provinz, die nicht nur die Segnungen des wirtschaftlichen Wandels zu spüren bekamen, von dem andere profitierten, sondern auch die Verachtung, dass sie sich in ihrer Bedrängnis nicht die hehren Werte von Toleranz, Liberalismus, Weltoffenheit bewahrt haben.

Das Gerede von den Verlierern, die zur Gefahr für Fortschritt und Freiheit werden, ist einerseits menschenverachtend, andrerseits aber selbst geradezu borniert und realitätsblind. Alleine das Wort so unbedacht zu setzen, wie es üblich geworden ist, zeugt von einem monströsen Triumph des Neoliberalismus, der auch die politische Sprache und das Sprachbewusstsein der Menschen verändert hat, und von einem kläglichen Versagen der politischen Linken.

Das Wort selbst, das suggeriert, das Leben wäre wie ein Spiel, in dem es eben Sieger und Verlierer gibt, müsste sozial interessierten Menschen verdächtig sein. Wer, wenn nicht jene, die von der rasant globalisierten Ökonomie ausgespien wurden, wäre das gewissermaßen natürliche Subjekt, dem sich die politische Linke zuzuwenden hat? Und wer wäre historisch dazu berufen, nein, verpflichtet, sie in ihrer unhaltbaren Lage wahrzunehmen, für sie einzutreten und sich auf ihre Seite zu schlagen, wenn nicht die Sozialdemokratie?

Aber die Sozialdemokraten haben sich längst die neoliberale Sprache und das dazugehörige Wertesystem, das auf die Existenz von Verlierern und Gewinnern, Abgehängten und Zukunftsfitten gründet, zu eigen gemacht. Die Verlierer wurden erst zum Problem, da sie ihnen als sichere Wählerschaft verloren gegangen sind. Jetzt entdecken sie alle, die Sozialdemokraten, Liberalen, Konservativen auf einmal die Verlierer, und zwar als Klientel, um das man sich in den letzten Jahren zu wenig "gekümmert" habe. Die Kümmerer versprechen, sich ab sofort wieder um die Benachteiligten zu "kümmern", die sie in dieser Sprachregelung doch mit paternalistischem Wohlwollen in die desolate Rolle von Kümmerlingen drängen.

Die Kümmerlinge laufen ihnen deswegen aber nicht gleich wieder in Scharen zu. Da jede Reform, die in den vergangenen Jahren triumphal ausgerufen wurde, nur zur Verschlechterung ihrer Lebensverhältnisse beigetragen hat, setzen sie auf den grundsätzlichen Bruch mit dem System, und der wird ihnen nicht von den demokratischen, sondern von den rechten Parteien versprochen. Diese haben sich historisch meist als Mächte der Ordnung und Disziplin präsentiert, derzeit aber propagieren sie nicht weniger als den Zorn, die Rache, den Umsturz. Sie sind es, die die Verlierer als potenzielle Avantgarde der Revolution entdeckt haben, und dagegen nimmt sich das Versprechen der Demokraten, sich um die Vergessenen zu kümmern, unglaubwürdig, unentschlossen und ängstlich aus.

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Quelle:
SZ vom 06.05.2017
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