Gastkommentar:Vergessen

Der Verlust der Erinnerung ist das größte Übel unserer Zeit - und eine Gefahr für die Demokratie. Das haben die Wahlen in Griechenland gezeigt.

Von Mario Fortunato

Seit zweitausend Jahren steht außer Zweifel, dass Griechenland die Heimat der Tragödie ist. Und ebenso, dass uns mit dieser literarischen Form der Mythos in seiner ursprünglichen Gestalt überliefert wurde. Ganz Europa verdankt sich der griechischen Welt und ihrer Sprache. Ausgehend von Griechenlands klassischer Kultur unternahm Freud die ersten Schritte, um aus unseren armselig leeren Köpfen zutage zu fördern und als Theorie zu formulieren, was in Literatur und Religion bereits gegenwärtig gewesen war. Und in unseren leeren Köpfen - dem, was man gemeinhin das "Unbewusste" nennt - entdeckte er die Einsamkeit und das Leiden an der Moderne, dieses Monument unserer Ängste, das sich "Schuldgefühl" nennt, den Inzest, das Verbrechen, den Verrat, die Hybris - all das, woraus wir gemacht sind.

Aus diesem Grund sollten wir Europäer dem Ausgang der jüngsten griechischen Parlamentswahlen besondere Aufmerksamkeit schenken: Denn der Sieg der Nea Dimokratia und ihres Parteivorsitzenden Kyriakos Mitsotakis, eines 51-jährigen Ex-Bankiers mit Harvard-Abschluss, ist von einer Bedeutung, die ihn aus dem Bereich banaler politischer Meldungen in die Nähe des Mythos rückt - und damit in die der Tragödie.

Viele wissen nicht, zu welcher Epoche Figuren wie Napoleon oder Bismarck gehören

Mitsotakis gehört zu derselben ideologischen und bürgerlichen Familie, die Griechenland vor Jahren in die Katastrophe führte. Einfacher gesagt: Er ist der Vorsitzende derselben Partei und der Sohn desselben Mannes, die die Bilanzen des Landes fälschten und damit die griechische Gesellschaft massakrierten. "Massaker" ist hier nicht das starke Wort eines Südländers, der seinem Hang zu Übertreibung und Melodram nachgibt: Jeder, der sich in den vergangenen Jahren in Athen aufgehalten hat, weiß, wovon ich spreche. Arbeitslosigkeit, Armut, finanzieller Ruin.

Aufgrund der Perfidie der Nea Dimokratia und ihrer Führungsriege - Konstantinos Mitsotakis war von 1984 bis 1993 Vorsitzender der Partei, sein Sohn Kyriakos Minister in der Regierung des Antonis Samaras, der 2015 vom Volkszorn aus dem Amt getrieben wurde - mussten die Griechen einen hohen Preis zahlen, den ihnen die sogenannte Troika mit sadistischer - und, wie ich glaube, nicht ganz uneigennütziger - Pedanterie abverlangte.

Stellen wir uns jetzt für einen Moment den absurden Fall vor, vier oder fünf Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs hätten die faschistische und die nationalsozialistische Partei in Italien und Deutschland die jeweiligen Wahlen gewonnen. Das ist schlicht unvorstellbar. Gewiss, die Nea Dimokratia hat Griechenland weder in einen Krieg gegen den Rest der Welt gestürzt noch Millionen Juden, Homosexuelle, Roma und Dissidenten in Lager gesteckt und vergast, sie hat auch keine Monster wie Mussolini oder Hitler hervorgebracht. Gewiss nicht. Aber sie hat über den wahren Zustand des Staatshaushalts hinweggetäuscht, hat noch reichlich junge Verwandte und Freunde mit Pensionen bedient, hat den Verwaltungsapparat sinnlos aufgebläht, indem sie ihn mit Parteimitgliedern bestückte, hat freigebig vierzehnte und fünfzehnte Monatsgehälter verteilt - und Brüssel einen ausgeglichenen Haushalt und eine boomende Wirtschaft vorgeschwindelt. Offensichtlich, dass die Untaten dieser Partei und ihrer Führer mit denen der blutigen Diktatoren des 20. Jahrhunderts nicht vergleichbar sind. Trotzdem waren die verheerenden wirtschaftlichen und sozialen Folgen von einem Ausmaß, das man auf dem Territorium der EU seit mindestens fünfzig Jahren nicht mehr gesehen hatte.

Jetzt aber hat Griechenland mehr oder weniger dieselben Personen wiedergewählt, die dieses Debakel zu verantworten hatten. Selbstzerfleischung? Mangelndes Bewusstsein? Oder nicht eher das so unheimliche wie faszinierende Musterbeispiel dessen, was wir unseren Zeitgeist nennen können? Das heißt: Erinnerungsverlust. Selbstverlust.

Kürzlich las ich, dass eine beängstigende Zahl von Italienern nichts über die Geschichte weiß. Ein 20-Jähriger wird in der Regel keine Antwort darauf geben können, zu welcher Epoche und zu welchem Land Figuren wie Churchill, Napoleon und Bismarck gehören. Aus dem 20. Jahrhundert kennt man zwar die Namen der großen Schlächter, doch wenn man Stalin einer Nation zuordnen müsste, würde es schon schwieriger werden. Der Geschichtsunterricht in den Schulen ist schmückendes Beiwerk.

Es gab Zeiten, da lernte man Gedichte auswendig. Damals verlangten große Dichter wie W. H. Auden und Joseph Brodsky von ihren Studenten, eine gewisse Anzahl klassischer Verse aus dem Gedächtnis zu kennen. Eine Marotte? Das würde ich nicht meinen, wenn denn stimmt, dass die Poesie - unser aller Herkunft - Musik und Gesang ist, wie auch Nietzsche meinte, dem zufolge die Tragödie dem Gesang entspringt. Umso mehr, wenn man bedenkt, welche Auswirkungen das Internet und seine Anwendungen auf unsere Psyche in Hinsicht auf das Erinnerungsvermögen haben. Ich predige bestimmt keine Rückkehr auf die Bäume. Aber seitdem wir das Management unseres alltäglichen Lebens dem Smartphone anvertraut haben, erinnern wir uns an rein gar nichts mehr - Telefonnummern, Adressen, Geburtstage. Dabei wissen wir seit Jahrhunderten, dass das Gedächtnis den Bauchmuskeln gleicht: Es reicht, sie einige Zeit nicht zu trainieren, und schon geht das Selbstwertgefühl zum Teufel, ganz zu schweigen vom Sexappeal.

Der Verlust der Erinnerung ist das schwerste und heimtückischste Übel unserer Zeit, und es tritt immer häufiger auf. Dieses Übel ist eine Gefahr nicht nur für unsere schwachen Demokratien. Es ist eine Gefahr für die Menschheit - und ich sehe weit und breit keine Greta Thunberg, die es bekämpfen würde.

Mario Fortunato, 60, Schriftsteller, lebt nach Jahren in London und Berlin wieder in Rom.

Korrektur: In einer früheren Version dieses Artikels wurde fälschlicherweise geschrieben, dass Konstantinos Mitsotakis bis zu seinem Tod Parteivorsitzender der ND gewesen sei. Richtig ist: Er war Parteivorsitzender von 1984 bis 1993. Er starb 2017 mit 98 Jahren.

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