Gastkommentar:Verachtung

Gastkommentar: Norbert Frei ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Jena und leitet das Jena Center Geschichte des 20. Jahrhunderts.

Norbert Frei ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Jena und leitet das Jena Center Geschichte des 20. Jahrhunderts.

Die liberale Demokratie steht unter Druck wie seit der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen nicht mehr. Im Rückblick auf damals zeigt sich, wie wichtig sozialer Zusammenhalt für die Gesellschaft ist.

Von Norbert Frei

Demokratieverachtung ist kein schönes Wort. Aber es charakterisiert doch recht treffend eine Einstellung zur Politik, die sich gegenwärtig fast rund um den Globus breitmacht. Demokratieverachtung grassiert nicht nur in Staaten, in denen Demagogen und Populisten - die meisten sogar irgendwie demokratisch gewählt - ohnehin schon an der Spitze stehen und ihre Wählerschaft befeuern. Man denke an Leute wie Putin, Erdoğan, Trump. Aber man denke auch an Länder wie Polen und Ungarn. Und man denke an Konstellationen, in denen die Verfechter der liberalen Demokratie nach wie vor in der Mehrheit sind und Regierungen bilden können, aber genau dies nicht geschieht - wie neulich in Österreich. Oder wo das aus unklaren Gründen plötzlich viel länger dauert als gewohnt. Willkommen in Deutschland, viereinhalb Monate nach der jüngsten Bundestagswahl.

Demokratieverachtung war das Thema eines internationalen Symposions vor einer Woche in Jena. Den versammelten Historikern, Juristen und Politikwissenschaftlern ging es nicht um die Kalamitäten der Berliner Koalitionsverhandlungen, sondern um die Herausforderungen durch Nationalismus und Rechtspopulismus, mit denen Europa und die USA schon seit geraumer Zeit zu kämpfen haben, verstärkt aber seit der Wahl von Donald Trump. Die Frage war, ob diese Herausforderungen jenen aus den Zwanziger- und Dreißigerjahren des vergangenen Jahrhunderts ähneln: als die repräsentative Demokratie ihre bis heute folgenreichste Krise erlebte und die meisten der gerade erst entstandenen parlamentarischen Verfassungsstaaten schon wieder untergingen.

Vor dem Vergleich stand in Jena der genauere Blick auf eine Reihe von Ländern im Europa der Zwischenkriegszeit. Und der zeigte, dass es zu einfach wäre zu konstatieren, die jungen Demokratien hätten in den schwierigen Jahren nach dem Ersten Weltkrieg lediglich zu wenig Zeit zur Stabilisierung gehabt. Dagegen spricht, dass es überall entschlossene, ja enthusiastische Demokraten gab und vielfältige Bemühungen, den Menschen die Vorzüge der Demokratie als Lebensform nahezubringen.

Allerdings sah sich die demokratische Moderne von Anfang an erklärten Feinden gegenüber: nicht nur den alten Kräften der Reaktion, sondern neuartigen totalitären Bewegungen von links und rechts. Kommunisten, Faschisten, Nationalsozialisten - ungeachtet ihrer ideologischen Unterschiede richteten sich diese Bewegungen in vergleichbarer Weise an die "Massen", nämlich mit zweifelhaften sozialen Kohäsionsversprechen. Und die stießen, zumal in ökonomischen Notzeiten, bei vielen Menschen auf offene Ohren.

Aus einer gewissen historischen Flughöhe betrachtet, fehlte es den Demokratien der Zwischenkriegszeit meist weniger an anfänglichem Schwung als an machtpolitischen und finanziellen Mitteln im entscheidenden Moment. Seit 1929/30, unter dem Druck der Weltwirtschaftskrise und angesichts der autoritären Umgestaltungsforderungen der alten Eliten - namentlich in Deutschland -, gerieten die Verteidiger der Demokratie immer mehr in die Defensive. Und als ausgerechnet in dieser Situation, in der die Zahl der Arbeitslosen emporschnellte, auch noch der Sozialstaat zurückgefahren wurde, verflüchtigte sich das Vertrauen in die Integrationskraft und Leistungsfähigkeit der Demokratie. Dieses Vertrauen aber wäre nötig gewesen, um den gerade nicht mehr für alle gedachten, sondern auf Klassen- oder Rassenzugehörigkeit basierenden Verheißungen der antidemokratischen Bewegungen das Wasser abzugraben.

Die Frage des gesellschaftlichen Zusammenhalts, so viel lässt sich im Rückblick auf die Zwischenkriegszeit sagen, ist für die Zukunft der Demokratie von größter Bedeutung. Der britische Historiker Ian Kershaw, voller Sorge über die Entwicklung in seinem Heimatland, erinnerte deshalb vergangene Woche in Jena an Margaret Thatcher, die in den Achtzigerjahren einem besonders radikalen Kurs neoliberalen Wirtschaftens zum Durchbruch verhalf. Kritischen Einwänden bezüglich der gesellschaftlichen Folgen ihrer Politik des Staatsabbaus begegnete die Premierministerin mit dem berüchtigten Diktum, Gesellschaft gebe es gar nicht: "There's no such thing as society."

Zumindest laut würde so etwas selbst ein global agierender Konzernchef heute nicht mehr sagen. Das viel geschmähte politische Establishment in Deutschland ist, jedenfalls rhetorisch, ohnehin längst wieder in die Gegenrichtung unterwegs. So rangieren "Stabilität und Zusammenhalt" in der Präambel des Sondierungspapiers für die Groko noch vor "Erneuerung und Sicherheit". Mindestens theoretisch also scheinen viele erkannt zu haben, was die brennenden Fragen sind: Wie stärkt man sozialen Zusammenhalt in einer individualisierten und globalisierten Welt? Wie gelingt es, die pluralen, ja divergierenden Ansprüche an die offenen Gesellschaften des Westens mit dem wohl anthropologischen Bedürfnis nach Gemeinschaft in Einklang zu bringen? Wie schaffen wir es, die vielen, gerade in unserem Land nach wie vor doch eigentlich Zufriedenen aus ihrer politischen Trägheit (zu der in der Demokratie natürlich jeder das Recht hat) herauszulocken, auf dass sie den Demokratieverächtern entgegentreten?

Wie so oft, wird es auch hierbei helfen, mit gutem Beispiel voranzugehen - und das schlechte nicht noch zu kultivieren, wie soeben Josef Käser aus dem schönen Arnbruck im Bayerischen Wald: Bis vor ein paar Wochen wussten hauptsächlich die Görlitzer, dass Siemens in ihrer ebenfalls sehr schönen, aber mit Arbeitsplätzen nicht gerade gesegneten Stadt Gasturbinen produziert. Seitdem erfuhr es die ganze Nation - weil der Standort dichtgemacht werden soll.

Am vergangenen Wochenende dann sah die Welt, wie Siemens-Chef "Joe Kaeser" beim Dinner in Davos Donald Trump versprach, ein neues Gasturbinenwerk im boomenden Charlotte, North Carolina, zu bauen. Mag sein, dass die darüber nun aufbrandende Empörung den Görlitzern noch hilft. Aber wer sich angesichts solcher Praktiken noch über Demokratie- und Elitenverachtung wundert, der soll von mangelndem sozialen Zusammenhalt nicht sprechen.

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