Gastkommentar:So isser eben

27 Jahre nach dem Fall der Mauer wäre es an der Zeit, dass sich der Rest der Republik von den alten abgegriffenen Klischees über Berlin verabschiedet. Die Bundeshauptstadt ist längst hochattraktiv.

Von Dagmar Reim

Es war einmal ein armer Vetter. Zu Familienfesten lud man ihn stets ein, aber er musste immer am Katzentisch sitzen. Seine Scherze waren häufig jenseits von Gut und Böse, aber die Stimmung lockerte er verlässlich auf - nicht jeder Witz ein Treffer, und auch das kesse Hütchen, das er trug, sorgte einerseits für Stirnrunzeln, andererseits sagten sich alle: "So isser eben." Empfindlichen Schaden nahm der familiäre Frieden, als der arme Vetter irgendwann zu einem gewissen Wohlstand kam. Plötzlich konnte niemand mehr so recht über ihn lachen. Der ungeschriebene Familienvertrag "Wir da oben - der da unten" galt nicht mehr; der Vetter, den früher alle für hochkomisch gehalten hatten, nervte nur noch.

So geht es Berlin im föderalen Konzert.

Im Jahr 2001 verordnete der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit seiner hoch verschuldeten Stadt einen Paradigmenwechsel: "Sparen, bis es quietscht." Genauso kam es dann auch. Dank eines brutalen Sparkurses und kluger Weichenstellungen für die wachsende Stadt ging es mit Berlin ökonomisch bergauf. Viele rieben sich die Augen, als Berlin plötzlich mit seinem Wirtschaftswachstum andere Bundesländer überholte. Zigtausend Arbeitsplätze entstanden in der IT-Branche; Berlin gilt weltweit als hochattraktiv für Start-ups; die Kreativbranche boomt; die Arbeitslosigkeit ging zurück; und jedes Jahr ziehen, statistisch gesehen, die Bewohner einer Kleinstadt neu an die Spree: Gekommen, um zu bleiben.

So etwas bleibt nicht ungestraft. Die reichen Verwandten rümpfen die Nase. Sind enttäuscht. Hätten die Stadt gern weiter "arm, aber sexy" (Wowereit) gesehen, und wenn sie hätten wählen können: lieber arm. Armut macht demütig, eine Eigenschaft, die man Berlin nicht ohne Weiteres zuschreibt. Wo mag der Neid auf Berlin am größten sein? In Bottrop, Bensheim oder Brunsbüttel? Mitnichten. Denen fehlt jeder Großstadt-Ehrgeiz. München und Hamburg kommen wesentlich schlechter mit dem Berlin-Boom klar, glaubt man dem, was so gedruckt und gesagt wird.

Party auf der Terrasse eines angesagten Clubs im 13. Stock, Fest einer Produktionsfirma. Deren Chefin zeigt den angereisten Hamburgern voller Begeisterung das Stadtpanorama von oben. "Ist es nicht toll?" Antwort: "Und das haben alles wir bezahlt." Peng.

Zeitungen aus Hamburg und München überbieten sich darin, Berlin als Stadt zu zeichnen, in der man keinen Beruf, allenfalls ein Projekt hat. In der man sehr lang schläft und kein öffentliches Verkehrsmittel betritt ohne "Flaschbier " in der Hand. Derlei Vorurteile widerlegen zu wollen mit dem Verweis auf Fakten, ist sinnlos.

Berlin bietet kleine Fluchten und große Paradiese

Aber für die unglaubliche Attraktion Berlins in aller Welt muss es doch Gründe geben, Gründe, die die reichen Verwandten erzürnen. Berlin ist eine offene Stadt. Wer kommt und mitmachen will, gehört dazu. Noch ist Berlin nicht überteuert. Auch hier gibt es Gentrifizierung, aber Wohnen und Leben sind unvergleichlich preiswerter als in Hamburg oder München. Berlin ist reich an Kultur. Drei Opern, genau genommen: vier, zählt man die (private) in Neukölln mit; sechs große Theater; unzählige Off- und Off-off-Bühnen; eine agile Tanz-Szene; Literatur allerorten; zahllose Galerien, junge Modemacher; aufstrebende, experimentierfreudige Gastronomie; internationale Designer und Start-ups, die sogar richtiges Geld verdienen. Selbstverständlich zählen auch die Berliner Probleme: verrottende Schulen, das Längstzeit-Bauprojekt BER, eine Verwaltung, die den Bürgerschreck gibt, will man von ihr so etwas Exotisches wie einen Personalausweis. Das alles ist auch Berlin. Aber der Berliner regt sich schnell auf über die Mängel-Stadt, in der er lebt. In Hamburg wäre das undenkbar. Beispiel: Elbphilharmonie. Bauzeit endlos. Kosten verzehnfacht. Aber es hätte in Hamburg nie eine vergleichbar selbstzerfleischende Debatte darüber gegeben. Der von einer übergroßen Patrioten-Koalition aus Bürgern und Politikern zärtlich "Elphi" genannte Bau ist fertig und ein strahlendes Wahrzeichen der Hansestadt. Die Hamburger strahlen mit ihm um die Wette. War da was während der Bauzeit? Oder mit den Kosten? Och nö.

Da ist der Berliner anders. Er macht sich und seine Stadt mit Begeisterung nieder. (Dass auch der Bund und Brandenburg Bauherren des Flughafens sind, zählt wenig. Und die gigantische Überlast, die Tegel seit Jahr und Tag zuverlässig wegfliegt, würdigt auch keiner.)

Berlin bietet Talenten aus aller Welt (und vielen, die sich dafür halten) kleine Fluchten und große Paradiese. Berlin ist nicht irgendeine Großstadt in Deutschland. Berlin ist Metropole mit Problemen und Wachstumsschmerzen. Das grämt die anderen, die nur Großstadt sind. Klaus Wowereit hat es einmal auf die Formel gebracht: "Berlin ist gewissermaßen auffällig, um nicht zu sagen: exzentrisch. Exzentriker werden ... geliebt oder verabscheut."

Wäre es nicht an der Zeit, Frieden zu schließen mit der Hauptstadt? "Gönnen können", würde der Rheinländer die Tugend der Stunde beschreiben. Kaum sind 27 Jahre vergangen seit dem Mauerfall, wäre es eine große Geste, die starke Hauptstadt nunmehr zu genießen (was die meisten als Touristen ständig tun), ja sogar stolz auf sie zu sein. Die Rolle Berlins im föderalen Konzert hat sich verändert. Das wunderschöne Hamburg und das leuchtende München verlören nichts, wenn sie die starke Hauptstadt akzeptierten. Es muss ja nicht gleich Liebe sein.

Anneliese Bödecker, Profi-Berlinerin, die viele Jahrzehnte in der Stadt verbracht hat, meint: "Die Berliner sind unfreundlich und rücksichtslos, ruppig und rechthaberisch. Berlin ist abstoßend, laut, dreckig und grau; Baustellen und verstopfte Straßen, wo man geht und steht - aber mir tun alle Menschen leid, die hier nicht leben können." "Ebent", wie der ehedem arme Vetter aus Berlin sagt.

Dagmar Reim, 65, war Gründungsintendantin des Rundfunks Berlin-Brandenburg und führte den Sender von 2003 bis zum Sommer 2016.

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