Süddeutsche Zeitung

Gastkommentar:Schutzlos

Die Hilfsorganisation Oxfam erschüttert ein Skandal der sexuellen Ausbeutung. Wie so oft werden die Vorwürfe nicht aufgeklärt, sondern abgewehrt.

Von Carolin Emcke

Nein, es ist nicht verwerflich, im Angesicht von Tod und Zerstörung feiern zu wollen. Es ist auch nicht abwegig, in Krisengebieten Lust zu empfinden und sie ausleben zu wollen. Wer jemals in Landschaften der Verwüstung im Einsatz war (ob für eine Hilfsorganisation oder für eine Zeitung), weiß, dass es manchmal auch schlicht Ablenkung braucht, körperliche Nähe, Beisammensein mit anderen. Nicht, weil die innere Anteilnahme für das Leid der anderen abgestumpft wäre, sondern gerade weil sie nicht abgestumpft ist. Weil es andere Gespräche, andere Bilder, andere Erfahrungen braucht als die, die mit Leichenbergen, Vertreibung oder Folter zu tun haben. Nicht, weil zynische Gleichgültigkeit einen immunisiert hätte, sondern weil nackte Verzweiflung es einen nicht anders aushalten lässt, gibt es das manchmal: ausgelassene Feste und auch ausgelassene Sexualität. Und nein, es ist nicht per se kriminell, für unterschiedliche Formen der Sexarbeit Geld auszugeben. Es gibt Länder, in denen sich erotische Angebote von erwachsenen Frauen und Männern legal erwerben lassen. Nur nicht in Haiti. Dort ist Prostitution verboten.

Der Skandal, der gerade die britische Hilfsorganisation Oxfam erschüttert, ist kein "Sex-Skandal". Auch wenn gern so getitelt wird, wenn es um Machtmissbrauch, Nötigung und sexualisierte Gewalt geht. "Sex-Skandal", das ist eine rhetorische Camouflage, die die widerlichen Praktiken, die sie zu skandalisieren behauptet, absichtsvoll verharmlost. Es ist eine komplizenhafte Sprachpolitik, die mit selbstbestimmter Lust assoziieren lässt, was für die Opfer aus Ausbeutung oder sexualisierter Gewalt besteht. Ausbeutung oder sexualisierte Gewalt sind nicht dasselbe. Es braucht Details und es braucht Details in ihrem jeweiligen Kontext, um fair beurteilen zu können, was geschehen ist. Um körperliche Gewalt geht es bei Oxfam nicht.

Eine Schale Reis für einen "Blowjob"? Eine Zeltplane für Analverkehr?

Sollte stimmen, was die Hilfsorganisation selbst eingestanden hat, dann haben Mitarbeiter, die nach dem Erdbeben im Jahr 2010 nach Haiti gekommen waren, Frauen sexuell ausgebeutet. Das ist eine wohlwollende Beschreibung, weil nicht alle Fragen geklärt sind: Waren die Frauen nicht Frauen, sondern minderjährige Mädchen? Oxfam bestreitet das. War die Währung, in der bezahlt wurde, Geld oder Lebensmittel? Dazu gibt es wechselnde Aussagen. Wie muss man sich das vorstellen? Eine Schale Reis für einen "Blow-job"? Eine Zeltplane für Analverkehr? Es ist nicht indiskret, sich für Feinheiten zu interessieren, denn die Frage des Missbrauchs hängt auch an dem konkreten Ausmaß der Macht der einen und der Not der anderen. Und nicht zuletzt: Wie befriedigt kann jemand sein, der um sich herum nur Trümmer, Beinamputierte und hungrig-halluzinierende Menschen sieht, und vor sich eine Frau, die ihm ihren Körper verkauft?

Nach einer internen Untersuchung im Jahr 2011 hatte Oxfam vier Mitarbeiter entlassen, drei weitere reichten ihre Kündigung ein. Offiziell vermied Oxfam es allerdings, die spezifischen Gründe für die Entlassungen zu benennen - als ob es den Ruf der Organisation beschädigte, wenn bekannt würde, dass sexuelle Ausbeutung oder kriminelles Verhalten nicht toleriert wird.

Wie immer bei solchen Vergehen gibt es die, die alles abwehren, weil die Vorwürfe den eigenen Freund, das eigene Idol, die eigene Institution treffen. Es gibt die, die alles abwehren, weil sie nicht wahrhaben wollen, dass Frauen tatsächlich sexuelle Subjekte sind - und nicht nur Objekte. Aber es gibt auch die, die sich klammheimlich freuen, weil sie sich bestätigt sehen in ihrem Bild von einem bestimmten Geschlecht, einer bestimmten Herkunft, einem bestimmten Milieu. So jubilieren jetzt in England jene, die Hilfsorganisationen immer schon Gelder kürzen wollten. Es gibt viele, die sich weder für die individuellen Opfer noch für die strukturellen Mechaniken der Missachtung interessieren, sondern nur für ihr eigenes Weltbild. Sie registrieren Verbrechen nicht als Verbrechen, sondern als narzisstischen Triumph ihrer politischen oder ethnischen Rasterfahndung.

Geschlossene Institutionen und Milieus sind besonders anfällig für sexuellen Missbrauch

Die Wirklichkeit ist trauriger. Missbrauch und sexualisierte Gewalt können überall geschehen. Sie müssen immer an einem konkreten Fall mit konkreten Details erörtert werden und doch lassen sich auch strukturelle Komponenten erkennen, die sie erleichtern. Je schutzloser eine Person, desto eher trauen sich Menschen, die über mehr Macht und mehr Privilegien verfügen, sie zu missbrauchen. Insofern sind Minderjährige gefährdeter als Erwachsene, Frauen eher als Männer, sozial oder kulturell Marginalisierte eher als gut situierte Personen, junge Lernende eher als berühmte Professoren bedroht. Und zugleich sind geschlossene Institutionen oder Milieus, in denen starke Asymmetrien bestehen, besonders anfällig für sexuellen Missbrauch und Gewalt. Die Hierarchien können katholisch oder muslimisch tradiert sein, das Klima der Angst kann in einem autoritären Theater oder in einer reformpädagogischen Schule gedeihen. Entscheidend ist, dass die Macht so groß ist, dass verantwortungsloses Handeln kaum kritisiert oder sanktioniert wird. Anstatt sich darüber zu freuen, wen die Aufklärung in einem konkreten Fall trifft, sollte es darum gehen, die geschlossenen Räume zu öffnen und jene Strukturen der Ungleichheit zu bekämpfen, die manche Menschen schutzlos lassen.

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Quelle:
SZ vom 17.02.2018
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