Gastkommentar:Scheiden tut weh

Der Austritt Großbritanniens könnte die Desintegration der EU einleiten, befürchtet Douglas Webber, Professor für Politikwissenschaften bei der internationalen Business School Insead in Fontainebleau.

Von Douglas Webber

Großbritannien trat spät und zögerlich in die EU ein und war immer ein zwiespältiges Mitglied. Auch nach dem Beitritt 1973 konnte sich das Vereinigte Königreich nie ganz mit seiner europäischen Berufung aussöhnen. Seine Beziehungen zu Brüssel blieben gespannt; der jahrelange Konflikt um die Beiträge aus London in den EU-Haushalt zeigt dies. Das Land blieb auf Distanz zur EU, es trat weder dem Euro, noch dem Schengenraum bei. Inzwischen ist EU-Skepsis, getrieben von der europafeindlichen Boulevardpresse, zu einer machtvollen Massenbewegung geworden. Am 23. Juni werden die Briten über den Verbleib in der EU abstimmen. Der Ausgang ist völlig offen.

Die Folgen eines Brexit wären gravierend. Großbritannien würde zwar nicht über Nacht in eine Wirtschaftskrise stürzen. Die Regierung müsste jedoch den Marktzugang für britische Unternehmen mit der EU neu verhandeln. Schottland wird höchstwahrscheinlich mit einer Zweidrittelmehrheit für den EU-Verbleib stimmen. Die schottische National Party würde daher zu einem neuen Unabhängigkeitsreferendum drängen - dieses Mal mit guten Erfolgsaussichten. Großbritannien würde wahrscheinlich auseinanderfallen. Es wäre schwierig, Grenzkontrollen zwischen Nordirland und der Republik Irland zu vermeiden, was zu Spannungen zwischen London und Dublin führen dürfte.

Der Brexit könnte noch andere Länder aus der Union vertreiben

Oft unterschätzt wird dabei der Schaden, den die EU selbst durch einen Brexit nehmen könnte. In einer Welt, in der Europas demografisches, wirtschaftliches, finanzielles, militärisches und diplomatisches Gewicht schon rückläufig ist, verlöre die EU das Mitglied mit der zweitgrößten Bevölkerung, der zweitgrößten Wirtschaftskraft und eine der beiden wesentlichen Militärmächte. Es wäre ein Zeichen wachsender Uneinigkeit des Westens - zur Freude seiner Gegner, allen voran Wladimir Putins Russland.

Der Brexit wäre ebenso die bis dato stärkste Manifestation europäischen Zerfalls. Angesichts der vielen Krisen, die die EU schon gemeistert hat, sind viele Beobachter zuversichtlich, dass sie auch die gegenwärtigen Krisen überwinden und aus ihnen sogar enger integriert herauskommen wird. Die Mitglieder sind heute wirtschaftlich so voneinander abhängig, dass sie letztlich keine Wahl haben als die EU zu stützen. Selbst nach einem Brexit wäre Großbritannien - wie Norwegen und die Schweiz heute -durch bilaterale Vereinbarungen an die EU gebunden. Es könnte aber auch ganz anders kommen. Viele (besonders multinationale) Staaten , regionale und internationale Organisationen sind in der Geschichte schon auseinandergefallen. Die heutigen Krisen der EU sind umfassender und hartnäckiger als in der Vergangenheit. Damit ist diesmal wirklich alles anders. Wie zwischen den beiden Weltkriegen zerfällt die politische Mitte von Christ- und Sozialdemokraten und Liberalen, die die EU aufgebaut haben, antieuropäische extremistische Bewegungen haben Erfolg, fast überall und schnell.

Deshalb könnte ein Brexit zum Katalysator für eine viel radikalere Desintegration werden. Zentrifugalkräfte in der EU würden gestärkt. Auch andere EU-Mitglieder könnten sich für den Austritt entscheiden, besonders solche, in denen es bereits starke europaskeptische Strömungen gibt und die sich unwohl in einer EU ohne Großbritannien fühlen würden (vor allem die nordischen Länder und die Niederlande). Im schlimmsten Fall könnten der Euro und der Binnenmarkt zerfallen. Europa wäre geschwächt in der Welt, die Spannungen innerhalb der EU würden zunehmen.

Daher steht bei dem Referendum sehr viel auf dem Spiel. Die britischen Europaskeptiker sind so hartnäckig, dass auch ein knappes Ergebnis für den EU-Verbleib - im Moment das wahrscheinlichste Ergebnis - nicht ausreichen würde, die Bedrohung eines Brexit zu bannen, besonders wenn die EU in Dauerkrisen versinkt. Es wäre also naiv zu glauben, dass dieses Referendum die Rolle Großbritanniens in Europa ein für allemal bestimmen könnte.

Douglas Webber, 61, ist Professor für Politikwissenschaften bei der internationalen Business School Insead in Fontainebleau. Übersetzung: Ulrike Luetzenkirchen

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