Gastkommentar:Rasta in Duisburg

Die Verehrung von Präsident Erdoğan unter Deutschtürken ähnelt verblüffend dem Kult in Jamaika um Kaiser Haile Selassie. Kinder und Enkel der einstigen Gastarbeiter fühlen sich systematisch schlechter gestellt - wie Schwarze in der Karibik.

Von Vural Ünlü

Viele Deutsche wundern sich hierzulande über die lautstarke Begeisterung ihrer türkischen Mitbürger für Präsident Recep Tayyip Erdoğan. Sie verstehen nicht, wie Türken mit deutschem Pass einer Koran-Frömmigkeit verfallen können, die den Glauben ihrer Eltern bei Weitem übertrifft. Wie erklären sich dieses offensive Bekenntnis und die plötzliche Hinwendung zum Islam? Warum neuerdings in Deutschland die Verklärung der fernen und oft unbekannten Heimat ihrer Vorfahren, die mittlerweile auf neo-osmanischen Abwegen wandelt? Ein Blick nach Jamaika zur Glaubensgemeinschaft Bob Marleys kann vielleicht einige Antworten liefern.

Das mag überraschen. Was haben die Türkei und Deutschland mit Jamaika und seinem Reggae-Erbe zu tun? Doch der Neo-konservatismus, das demonstrative Bekenntnis zum Türkentum und die fast ekstatische Anbetung des Staatspräsidenten Erdoğan erinnern an die unkritische Glorifizierung des äthiopischen Autokraten Haile Selassie I. durch die jamaikanische Rastafari-Bewegung. Deren Anhänger verehrten den schillernden afrikanischen Kaiser als göttliche Inkarnation Jah und pflegten ebenfalls einen geschönten Mythos von Afrika.

Klar ist: Beide Gruppen trennen nicht nur Kontinente und der historische Kontext. Auch vom Erscheinungsbild her könnten beide Fangemeinden nicht unterschiedlicher sein: In Jamaika fallen sie ins Auge mit Filzlockentracht und rot-grün-gelben Häkelmützen, ihre deutschtürkischen Pendants tragen Kopftuch und drehen Gebetskettenkugeln.

Erdoğan dient vielen als Projektionsfläche für den Wunsch nach Identität

Die Rastafaris und die Euro-Erdoğanisten teilen jedoch auf gewisse Weise ihre soziale Ausgangslage: Sowohl die Nachfahren afrikanischer Sklaven auf Jamaika als auch die Gastarbeiterkinder der zweiten und dritten Generation in Deutschland verbindet oft das Gefühl systematischer Schlechterstellung innerhalb ihrer Aufnahmegesellschaft. Mehr noch als eine religiös-identitäre Strömung offenbaren beide die klassischen Muster einer Jugend- und Protestbewegung.

Wahrscheinlich deshalb verbindet bei näherer Betrachtungsweise die karibische Rasta-Gefolgschaft und die jungen Diaspora-Erdoğanisten jedoch ein überraschend konsistentes kulturelles Muster: Die inhaltliche Klammer bildet ein religiös orientierter Konservatismus, dessen Moralvorstellungen sich aus den Lehren des Alten Testaments beziehungsweise aus denen des Koran speisen. Männlichkeitskult und Patriarchalismus resultieren aus dieser dogmatischen Verankerung.

Identitätsstiftend ist bei beiden auch die Ablehnung der westlichen Gesellschaft selbst: Rastafaris streben nach einer ideologischen Befreiung vom babylonischen System - gemeint ist die weiße Vorherrschaft und ihre koloniale Ausbeutungssucht. Im Weltbild der Erdoğanisten wird der Westen als ein moralimperialistischer Kreuzritter dargestellt, welcher die Entwicklung der Türkei und den Frieden in der islamischen Hemisphäre obstruiert. Rastafaris verbinden religiös-mystische Elemente mit "Black Power". Der Erdoğan-Kult verbindet das Bekenntnis zum Islam mit dem zum strammen Türkentum. Wo die Rastafaris einem Panafrikanismus huldigen, träumen Erdoğanisten in Deutschland von der neo-osmanischen Vorherrschaft.

Schließlich predigen beide auch eine spirituelle Rückbesinnung - oder gar körperliche Rückkehr - zu ihren Wurzeln, obwohl ihnen die Heimatkultur in der Ferne fremd geworden ist und sie in ihrer neuen Heimat längst ihre eigene Bindestrich-Identität gefunden haben.

Haile Selassie und Recep Tayyip Erdoğan nehmen für ihre jeweiligen Anhänger die Rolle eines Heilands an. Noch mehr sind sie aber Projektionsfläche für deren Wünsche nach eigener Identität und Selbstwertgefühl.

Parallelen finden sich ebenfalls bei der Gegenüberstellung beider Potentaten. Obwohl beide aus unterschiedlichen Verhältnissen stammen - der eine wuchs in einem Armenviertel Istanbuls auf, der andere war Spross einer Adelsfamilie - so sehr ähneln sie sich im Stil und im Werdegang während ihrer Regierungszeit.

Beide starteten einmal als Hoffnungsträger, genossen hohe Popularität in der Bevölkerung und brachten ihr Land anfangs mit einer Modernisierungsoffensive voran. Im Zenit der Macht stehend, inszenierten sich dann beide als selbstherrliche Autokraten mit Fantasieuniformen: der äthiopische Regent als moderner Märchenkaiser, Erdoğan als Sultan mit neo-osmanischer Großmann-Symbolik. Mit zunehmender Amtsdauer wurden sie benebelt vom Pomp, umgeben von unterwürfigen Jasagern und hermetisch abgeschottet gegen Kritik. Selassies Regentschaft endete tragisch: Er wurde nach 39 Jahren Amtszeit von einer Militärjunta abgesetzt, mit einem Kissen erstickt und unter einer Toilette des kaiserlichen Palastes in Addis Abeba verscharrt.

Ein solches Schicksal dürfte Erdoğan erspart bleiben. Er überlebte den Militärputsch im Juli 2016 und ging daraus sogar gestärkt hervor. Doch seine politische Zukunft bleibt ungewiss. Er hat bereits erklärt, als Präsident bis zum Jubiläumsjahr der Türkei im Jahr 2023 regieren zu wollen. Ein "Ja" beim Verfassungsreferendum könnte ihm und seiner AKP einen Dauerzugriff auf das Amt des Staatspräsidenten sichern. Wie auch immer das Votum am 16. April ausgehen wird: In seinem Prunkpalast in Ankara scheint ihm immer mehr der Bezug zur Realität abhandenzukommen. Ein Klammern an die Macht und eine Borniertheit gegenüber dringend nötigen Reformen, gepaart mit einer aggressiven außenpolitischen Rhetorik, prägen inzwischen seine politische Handschrift. Auch Erdoğan könnte das Schicksal vieler Herrscher mit Realitätsverlust ereilen - ein ungewisses Ende sowohl für die Türkei als auch für Europa.

Vural Ünlü, 44, ist Medienökonom mit sowohl deutschem als auch türkischem Pass. Seit 2009 ist er Vorstandssprecher der Türkischen Gemeinde in Bayern e. V.

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