Gastkommentar:Placebo für die SPD

Die Sozialdemokraten regieren wieder in Dänemark. Aber taugen sie als Vorbild für die deutschen Genossen?

Von Bernd Henningsen

Seit Donnerstag hat Dänemark wieder eine sozialdemokratische Regierung. Wie es der dänischen Tradition entspricht, regiert Mette Frederiksen mit einem Minderheitskabinett. Sie muss nun sehen, wie sie mit ihrem relativ unverbindlichen Programm Mehrheiten gewinnt. Für die als "links" kategorisierte Sozial- und Wirtschaftspolitik dürfte sie diese bekommen, haben doch die Parteien links der Mitte nun eine Mehrheit im Parlament. Für eine Fortsetzung der - gelinde gesagt - fremdenfeindlichen und islamophoben Ausländerpolitik wird sie es schwer haben, da sich etwa die Sozialisten deutlich dagegen ausgesprochen haben.

Der ihr nun in der Regierung bevorstehende Teufelsritt - "linke" Sozialpolitik, gemengt mit "rechter" Ausländerpolitik - hat hierzulande wissenschaftliche Experten, Ratgeber in den Parteien, Kommentatoren in den Feuilletons und Politikredaktionen nicht davon abgehalten, aus dem Erfolg der dänischen Sozialdemokraten eine Rezeptur gegen das Siechtum der SPD herauszudestillieren. Wie diese Verordnung allerdings angewendet werden soll, dazu gibt es keinen Beipackzettel, es gibt auch keine Warnungen vor den Nebenwirkungen oder gar Anzeigen für Gegenmittel, sollte die Therapie aus dem Ruder laufen. Das Rezept wird ausgestellt, ohne vorhergehende Anamnese.

Ausgeblendet wird, dass die Parlamentswahl im Juni keineswegs mit einem Sieg der Sozialdemokraten endete, sondern mit einem Sieg der Populisten. Diese haben es in mehr als 40 Jahren geschafft, das politische Spektrum Dänemarks so weit nach rechts zu verschieben, dass die Parteien der Mitte, einschließlich der Sozialdemokratie, mit einem Programm reüssieren konnten, das im besten Falle als fremdenfeindlich, bei näherer Betrachtung als menschenverachtend bezeichnet werden muss. Das betrifft nicht nur die Errichtung eines absurden "Wildschweinzauns" an der deutsch-dänischen Grenze, sondern auch die Verschreibung von Erziehungsprogrammen für nicht-westeuropäische Einwohner, die Verpflichtung zur öffentlichen Kindererziehung und die Ghettoisierung muslimischer Einwanderer. Schon längst hätte die EU-Kommission über ein Vertragsverletzungsverfahren diskutieren müssen.

Vor Jahren schon fiel der SPD die Nationalisierung und die Rhetorik der Ausgrenzung auf, sie distanzierte sich von den dänischen Nachbarn. Noch 1999 hatte der sozialdemokratische Ministerpräsident Poul Nyrup Rasmussen über die Dänische Volkspartei gesagt, sie werde nie "stubenrein" werden, seither ist diese Floskel ins dänische politische Vokabular eingegangen. Für die dänischen Sozialdemokraten mögen die Volkspartisten weiterhin nicht stubenrein sein - aber ihr Ausländerprogramm haben sie gekauft.

Ausgeblendet wird, dass die Erdrutschverluste der Dänischen Volkspartei nur zu einem geringen Teil von der Sozialdemokratie aufgefangen wurden, in der Mehrzahl liefen die Wähler zu den Rechtsliberalen, zur Konservativen Partei oder den neuen Splitterparteien am äußersten rechten Rand; ja, die dänischen Genossen haben mit ihrem Links-rechts-Kurs 0,4 Prozentpunkte verloren, die Sozialisten hingegen 3,4 und die Sozialliberalen vier gewonnen - sie hatten sich vom sozialdemokratischen Kurs distanziert. Die Wählerwanderungen geben keinen Beleg dafür, dass die Strategie des Links-rechts-Programms erfolgreich war.

Die Experten-Empfehlungen an die SPD sind billig, sie insinuieren, dass wir es mit einer grenzüberschreitenden politischen Kultur zu tun haben. Die dänische Sozialdemokratie ist nie theoriegeritten gewesen - schon am Beginn der Bewegung waren die dänischen Genossen entsetzt über die in Deutschland geführten theoretischen Debatten über die Diktatur des Proletariats und die marxistische Verelendungstheorie. Stattdessen kümmerten sie sich lieber um die praktischen Belange der kleinen Leute und halfen, eine pragmatische Regierungspolitik umzusetzen. Der immer wieder gefeierte Kompromiss, den der sozialdemokratische Ministerpräsident Thorvald Stauning mit den beiden liberalen Parteien just in der Nacht vom 29. auf den 30. Januar 1933 einging, gilt als politischer Paradefall für eine parteiübergreifende, pragmatische Politik, mit der eine politisch-ökonomische Vereinbarung gelang, die zum Grundstock für die Überwindung der Weltwirtschaftskrise wurde und zur Immunisierung gegenüber dem Nationalsozialismus beitrug.

Klar ist, dass eine Aneignung der verschärften Einwanderungs- und Migrationspolitik aus Dänemark die SPD zerreißen würde. Eine Teil-Wiedervereinigung mit der Wagenknecht-Linken, ein Schwenk zum Programm eines Thilo Sarrazin käme einer Selbstaufgabe der Partei gleich.

Dänische Politik ist strukturell Bottom-up organisiert; dänische Politiker sind gerne geneigt, sich nach "Volkes Stimme" zu richten. Dass Dänemark sich vier Vorbehalte gegenüber der europäischen Integrationspolitik ausbedungen hat, hat genau damit zu tun: Obwohl die politische Klasse die Entscheidungen für falsch, ja für kontraproduktiv hält, ist in drei Volksabstimmungen und mehreren Protokollnotizen bestätigt worden, dass Dänemark den Euro nicht einführt (aber an allen Regularien des Euro-Raums teilnimmt, ohne Mitbestimmungsrecht), dass das Land nicht an der grenzüberschreitenden Politik von Sicherheit und Verteidigung teilnimmt, nicht in Staatsbürgerschaftsfragen und nicht an der europäischen Kooperation von Polizei und Justiz (obwohl die Terrorismusbekämpfung eine hohe Priorität im Land hat und nicht allein gelingen kann).

Seit der für die Volkspartei verheerenden Parlamentswahl wird in Dänemark nicht nur über die Gesamtverschiebung des politischen Spektrums nach rechts diskutiert. Es kommt auch in den Fokus die über die letzten zwei Jahrzehnte immer heftiger gewordene Beschädigung des öffentlichen Diskurses, die aufgetürmten Lügengebäude zur dänischen Geschichte und Kultur - durch eine von der Dänischen Volkspartei geduldete konservativ-bürgerliche Regierung unter Lars Løkke Rasmussen, davor unter Anders Fogh Rasmussen. Arroganz, Misstrauen, Anschuldigungen, Falschmeldungen, ja Lügen haben verdeckt, was die Traditionen der dänischen politischen Kultur sind - Offenheit, Toleranz und Kompromissbereitschaft.

Ob der angerichtete Diskursschaden aufgearbeitet werden, ob die Wiederherstellung ziviler politischer Umgangsformen mit einer Links-rechts-Politik gelingen kann, mag man hoffen - Zweifel sind angebracht. Zu meinen, die dänischen Sozialdemokraten hätten eine Blaupause geliefert, wie die deutsche (nicht nur sozialdemokratische) Unordnung sortiert werden kann - dazu gehört viel Fantasie.

Bernd Henningsen war seit 1994 Gründungsdirektor des Nordeuropa-Instituts der Humboldt-Universität zu Berlin. Er lehrt und forscht zur Politik und Kultur Skandinaviens.

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