Gastkommentar:Nationale Psychologie

Worauf es ankommt in Europa: über suizidale Italiener, kontrollsüchtige Deutsche und vergessene Schlüssel in Mailand und Berlin.

Von Mario Fortunato

Aufgrund des dummen Zufalls, dass ich in Italien geboren wurde, neige ich zum Suizid - so sieht es jedenfalls ein deutsches Nachrichtenmagazin. Ich würde da den Strick vorziehen, der in der Tat oft das Werkzeug des besonders verbitterten Lebensmüden ist. Andere Medien sehen mich, den Italiener, als Schnorrer und Profiteur, was mir ein Widerspruch zu sein scheint: Warum sollte ich erst andere übers Ohr hauen und mich dann umbringen? Auch italienische Zeitungen üben sich derzeit in der Nationaldiagnose und sinnieren über die kontrollsüchtigen (also analfixierten) Deutschen mit ihrem Allmachtswahn. Neu ist das nicht: Schon nach der Brexit-Abstimmung übertrafen sich Europas Medien darin, Englands politische Szene neurologisch-therapeutisch zu analysieren.

Was mir am Europa von heute am meisten missfällt, ist, dass sich hier eine triviale, selbstgefällige Redeweise entwickelt hat, die nicht aufklärt, sondern sich anschmiegt ans Volk, die den dümmsten Gemeinplätzen Vorschub leistet, die dann im Internet und in den Bars zirkulieren, überall, wo das Geschwätz des Hörensagens triumphiert. Dies ist umso bedenklicher, wenn man sieht, wie ein schlecht übersetzter Satz eines Politikers eine hasserfüllte Polemik auslöst, die auf absolut nichts basiert. Die EU bräuchte weniger National-Psychologen und mehr Übersetzer.

Gerade die Wirtschaft scheint der wunde Punkt zu sein. In Italien war die Regierung aus Lega und Fünf-Sterne-Bewegung beim ersten Anlauf an der Wahl des Wirtschaftsministers gescheitert. Eigentlich war dafür ein älterer Professor vorgesehen; seine Entwicklung zum radikalen Euro-Gegner machte ihn in den Augen des Staatspräsidenten ungeeignet für das Amt. Das löste enormen Krawall aus; am Ende überwog die Einsicht, und ein anderer Professor wurde Wirtschaftsminister.

Diese Geschichte verrät, wie fragil unsere Demokratien sind: Es reicht der Name eines möglichen Ministers, und die Angst geht um, die Märkte könnten kopfstehen, ein Land und ein Kontinent zum Teufel gehen. Das soll seriös sein? Dass unsere Kultur, die auch mit dem Blut furchtbarer Kriege erkauft wurde, infrage gestellt wird; nicht, wenn man Tausende arme Schlucker im Meer ertrinken lässt, die Luft vergiftet wird, weil die Mafia tötet - sondern weil die Märkte besorgt sind?

Auch in der Hausgemeinschaft Europa muss man wissen, worauf es ankommt

Ja, das heutige Europa ist eine Hausgemeinschaft, deren Regeln von allen respektiert werden müssen. Aber auch Hausgemeinschaften müssen wissen, worauf es ankommt. Als ich in Berlin wohnte, klopfte jemand an die Tür. Er habe sich aus seiner Wohnung ausgesperrt - und während ich noch immer nicht begreife, was er will, betritt er meine Wohnung und steuert auf einen Kasten in der Mauer zu, mich belehrend, dass alle Hausbewohner in diesem Schränkchen die Schlüssel aller Wohnungen verwahrten für Ausnahmesituationen wie diese.

Ein paar Jahre später in Mailand: Als ich eines Morgens mein Apartment verlasse, sehe ich, dass im Türschloss gegenüber versehentlich die Schlüssel vergessen wurden. Ich klopfe. Meine Nachbarn wollen wissen, wer ich bin. Ich erkläre, was los ist, nenne meinen Namen, nichts passiert: Die da drinnen trauen mir nicht; ich höre: Verschwinden Sie! Ich gehe und wünsche mir, dass jemand ihre blöden Schlüssel mitnehmen möge. So viel über nationale Psychologien.

Mario Fortunato ist Schriftsteller. Er hat in den vergangenen 20 Jahren mehr in Europa als in Italien gelebt. Übersetzung: Jan Koneffke.

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