Süddeutsche Zeitung

Gastkommentar:Mit Fakten gegen die Panik

Lesezeit: 3 min

Seriöse Berichterstattung kann eine verunsicherte Gesellschaft in Krisen stabilisieren: Sechs Regeln für guten Journalismus in Zeiten des Terrorismus, der Gewalt und der vermeintlich einfachen Lösungen.

Von Bruce Shapiro

Wir leben, so scheint es, in einer Zeit des ständigen Danach. Die Gräueltaten geschehen so schnell und oft, dass wir keine Zeit haben, den Schock der einen zu überwinden, ehe uns schon die nächste trifft. Massenschießereien, Angriffe mit der Axt, Selbstmordattentate, ein Lastwagen auf einer Strandpromenade, Schüsse in einem Einkaufszentrum. Mal ist es kaltblütig organisierter Terror, mal die Tat einsamer, gestörter Seelen. Manchmal kann man schwer entscheiden, was von beidem es ist.

Und was ist die Rolle der Medien dabei? Unbestätigte Informationen werden verbreitet, grausige Bilder und beängstigende Gerüchte kreisen in den sozialen Medien. Wir bombardieren Überlebende und Zeugen mit Fragen. Unsere Berichte können Täter berühmt machen und die Verzweiflung in der Öffentlichkeit verstärken. Doch trotz allem bleibt der Journalismus maßgeblich, wenn es darum geht zu verstehen, was passiert ist, warum und wie darauf reagiert werden soll. Die Last, die in Zeiten des Terrors auf Reportern, Fotografen und Redakteuren liegt, ist groß.

Journalisten sollten zeigen, dass die Dinge eine Geschichte haben

In den vergangenen 15 Jahren, seit den Anschlägen vom 11. September 2001, haben Journalisten in den USA und in Europa mit diesen Problemen gerungen. Wir haben voneinander gelernt und von Kollegen, die andere Zeiten der Gewalt erlebt haben, von Nordirland über Kolumbien bis Sri Lanka. Es gibt keine einfachen Antworten, aber einige wichtige Erkenntnisse:

Erstens: Akribisch mit Fakten umgehen. Was ist bekannt, was nicht; was ist wahr, was offensichtlich falsch. Nach jeder spektakulären Gewalttat kursieren in den ersten Stunden unzählige Gerüchte. In den USA wurden nach Massenschießereien Opfer für tot erklärt, die am Leben waren. Die jüngste Schießerei in Dallas wurde vier Stunden lang als Tat von Terroristen bezeichnet, war aber tatsächlich die Tat eines psychisch Kranken. Falsche Tatsachen werden zu Mythen, und verhärtete Mythen werden gefährliche Politik.

Zweitens: Vorsicht mit Bildern. Die Flut nutzergenerierter Videos und Fotos erhöht die Gefahr, in eine von Sensationsgier gespeiste Dauerschleife zu geraten. Ständig wiederholte Gewaltvideos dienen den Interessen der Täter; sie erzeugen Panik und beschädigen die öffentliche Debatte, alles konzentriert sich auf einen Horrormoment. Ursachen und Folgen werden nicht beleuchtet - oder die Öffentlichkeit wird so erschöpft, dass keine sinnvolle Debatte mehr möglich ist.

Drittens: Berufsethos wahren. Terroranschläge untergraben den Gesellschaftsvertrag. Unethisches Verhalten von Journalisten kann Opfer zusätzlich verletzen. Es kann wie ein weiterer Übergriff wirken und Journalisten selbst anfälliger für posttraumatische Störungen machen.

Viertens: Wichtig sind Meldungen über die Überlebenden, auch wenn die Täter ermittelt, festgenommen oder angeklagt werden. Nach der anfänglichen Sensationsphase konzentriert sich die Berichterstattung oft zu sehr auf die Kriminellen, die den Anschlag planten, während die Überlebenden und die Angehörigen sich an den Rand gedrängt fühlen. Sie müssen einen komplexen Trauer- und Heilungsprozess durchlaufen. Manche Opfer sind vielleicht wütend und suchen Rache, andere sind bereit zur Vergebung. Manche kommen mit der Zeit gut zurecht, andere werden sich nie davon erholen. Rücksichtsvolle und sensible Berichterstattung kann Überlebende wieder mit ihrem Umfeld verbinden. Wenn diese aber voller Klischees oder aufdringlich ist, kann sie die Überlebenden noch isolierter hinterlassen.

Fünftens: Fakten und Perspektive gegen Panik. Terroranschläge sollen das Vertrauen jeder Gesellschaft in sich selbst untergraben. Die Grausamkeiten der vergangenen Wochen stellen zwar elementare Bedrohungen dar, trotzdem bleibt Terror für die meisten Menschen in Deutschland ein geringeres Risiko, als es häusliche Gewalt, sexuelle Übergriffe und Straßenkriminalität sind. Man sollte die Gefahren nüchtern darstellen, ohne dabei den Terrorismus zu verharmlosen.

Sechstens: In Berichten sollte es nicht nur um Rechenschaft gehen (Wer hat zugelassen, dass das passiert?), sondern auch um Lösungen. Geht jemand die Krise wirkungsvoll an? Was können wir aus vergangenen Ereignissen lernen? Terrorismus ist am gefährlichsten, wenn er die Gesellschaft in einen Zustand permanenter, extremer Wachsamkeit und polarisierten Denkens versetzt. Wir sehen überall Bedrohungen, der Verstand wird zurückgedrängt, Menschen- und Bürgerrechte werden missachtet. Gute Berichterstattung zeigt, dass die Dinge eine Geschichte haben und dass sie kompliziert sind.

Sechstens: Reporter müssen auf sich selbst achten. Zahlreiche Studien zeigen, dass Journalisten, die mit Gewalt und Konflikten zu tun haben, ebenso unter posttraumatischen Belastungsstörungen leiden können wie Polizisten, Feuerwehrleute und Soldaten. In Zeiten des Terrors müssen Medienunternehmen bei Angestellten, Führungskräften und freien Mitarbeitern das Bewusstsein für Traumata wecken und notfalls für seelischen Beistand sorgen - psychologisches Äquivalent zu Schutzwesten und Erste-Hilfe-Kursen.

Journalismus kann, wenn er gut ist, eine Antwort auf Gewalt sein, eine Alternative zu noch mehr Terror oder zum Missbrauch einer Nation in Panik. Wir antworten auf Brutalität, Chaos und Angst mit Fakten, Artikeln und Bildern. Ja, die Medien machen oft Fehler. Manchmal sind diese katastrophal, wie nach dem 11. September in Amerika, als leichtgläubige Berichterstattung einen verheerenden Krieg unterstützte. Wenn wir aber sorgfältig über unsere Rolle nachdenken - können wir die Gesellschaft vom Abgrund zurückholen. Jeder sorgfältig recherchierte Artikel ist ein Widerspruch gegen Panik und autoritäre Kurzschlüsse. Er gibt den Medienkonsumenten ein gewisses Maß an Kontrolle über den Schrecken zurück.

Bruce Shapiro , 57, ist Direktor des Dart Center for Journalism and Trauma, eines Projekts der Columbia School of Journalism in New York.

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Quelle:
SZ vom 13.08.2016
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