Süddeutsche Zeitung

Gastkommentar:Mit den Augen des anderen

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Unter Muslimen gibt es viele Vorurteile gegenüber Juden. Sie könnten verringert werden, wenn in der Schule über den Nahost-Konflikt geredet würde.

Von David Ranan

Was haben Judenhass unter Muslimen und die Blutwurst in der Deutschen Islamkonferenz gemeinsam? Gläubige Muslime essen kein Schweinefleisch und vermeiden blutige Speisen; das Bundesministerium des Inneren bewirtete dennoch die Teilnehmer der Islamkonferenz mit Blutwurst. So etwas passiert, wenn es an Kenntnis und Empathie fehlt; bei einem Treffen mit dem Zentralrat der Juden wäre das nicht vorgekommen. Mangelndes Wissen und Mangel an Empathie stecken hinter vielen Missverständnissen, Beleidigungen, Aggressionen. Das Gute dabei ist: Wissen und Empathie sind veränderbar.

Das gilt auch für die anti-jüdischen Einstellungen und den Antisemitismus unter Muslimen. Bei den meisten ist die negative Haltung gegenüber Juden mit dem Israel-Palästina-Konflikt verbunden. Auch bei gebildeten Muslimen gibt es da erschreckende Stereotypen, Vorurteile und Verschwörungstheorien. Die meisten Bürger in Deutschland wissen, dass es nicht politisch korrekt ist, sich antisemitisch zu äußern; manche kaschieren ihren Antisemitismus als Israelkritik. Muslime aus dem arabischem Raum haben dagegen ein aktuelles Anliegen, einen blutigen Territorialkonflikt mit dem jüdischen Staat Israel. Hinzu kommt das Unwissen über den Streit um das Land, das beide Völker als ihr Land betrachten. Halbwissen plus hohe Emotionalität kann gefährlich werden. Trotzdem ist eine anti-israelische Haltung bei arabischen Muslimen nicht automatisch als antisemitisch zu verstehen.

Dies ist der Grund für meinen Optimismus. Wenn hohe Emotionalität auf halbem Wissen basiert, kann mit Bildung geholfen werden. Dabei muss auf zwei Ebenen gearbeitet werden: Es geht um Aufklärung und Einfühlungsvermögen. In allen Schulen sollte der Nahost-Konflikt gelehrt werden. Zurzeit findet das, wenn überhaupt, nicht ausreichend statt. Der Konflikt ist komplex und kann weder einfach mit der Gründung Israels noch allein mit dem Holocaust erklärt werden. Es bräuchte ein gutes Modul, das die Verflechtung des Konflikts in die Neustrukturierung der Gebiete des ehemaligen Osmanischen Reiches und den Zerfall der Kolonialstrukturen zeigt. Wichtig ist zu erkennen, dass es nicht die eine Wahrheit gibt: Die Sichtweisen der verschiedenen Parteien gehören zum Verständnis des Konflikts.

Wegen der deutschen Geschichte werden Juden und der jüdische Staat Israel immer einen besonderen Stellenwert in Deutschland haben. Schon deswegen sollten junge Menschen, ob aus der Mehrheitsgesellschaft oder mit Migrationshintergrund, die Ursachen des Konflikts um den jüdischen Staat verstehen. Spannung in Palästina/Israel erzeugt schnell Unruhe unter Muslimen. Ohne Kenntnis der Tatsachen werden sie Opfer der Propaganda, der Hetzer und Extremisten. Wer informiert ist, kann entscheiden, wie er oder sie den Konflikt sieht. Damit kommt die zweite Ebene ins Spiel: die Empathie. Auch sie muss man lernen: Wer die Meinung des anderen nicht teilt, muss dennoch dessen Recht auf die eigene Sichtweise, die eigenen Gefühle akzeptieren.

Ungefähr 200 000 Juden leben in Deutschland. Viele machen sich Sorgen um die Sicherheit des jüdischen Staates; oft haben sie Familienangehörige oder Freunde in Israel. Ihre Sicht des Konflikts reflektiert diese Sorgen, Ängste, Zugehörigkeitsgefühle. Ähnlich geht es vielen der 4,5 Millionen in Deutschland lebenden Muslime. Besonders jene, die Verwandte oder Freunde in Palästina haben, aber auch viele, die sich mit ihren Glaubensgenossen identifizieren, machen sich Sorgen um die Lage in Gaza und im Westjordanland. Sie sind wütend darüber, wie Israel über die Palästinenser und die palästinensischen Gebiete herrscht. Sie bewerten den Konflikt über ihre Gefühle und über ihre Loyalitäten.

Die Menschen in Deutschland können den Nahostkonflikt nicht lösen. Aber sie können die Gefühle des anderen akzeptieren lernen, sie können Empathie für die Ängste, Sorgen, selbst für den Hass des anderen entwickeln. Für Muslime wie Juden in Deutschland kann das bedeuten: Die Tatsache, dass mein "Cousin" mit deinem "Cousin" im Konflikt ist, darf nicht bedeuten, dass ich mit dir im Kampf sein muss. Wir können unseren jeweiligen "Cousins" loyal bleiben und dabei den Nahost-Konflikt im Nahen Osten lassen, fern von unseren Straßen.

Daran muss man arbeiten. Die Schule wäre ein guter Ort dafür.

Der Politikwissenschaftler und Autor David Ranan , 72, wuchs in Israel auf. Er lebt heute in London und Berlin.

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SZ vom 29.12.2018
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