Gastkommentar:Frivole Wirklichkeit

Zweimal schon ist Italien in diesem Jahr von einem schweren Erdbeben heimgesucht worden. Wer so eine Katastrophe selbst miterlebt hat, dessen Blick auf die Welt ändert sich, die Realität erscheint ihm plötzlich wie verdichtet.

Von Mario Fortunato

Erschütterung, Schwarmbeben, Verwerfung, Epizentrum, Richterskala: Lauter Begriffe, die man vorher nur vom Hörensagen kannte, werden plötzlich real, wenn man selbst ein Erdbeben erlebt. Die Wirklichkeit tritt nackt hervor, wird wirklicher, als sie vorher zu sein schien. Donald Trump wird wieder zu dem unendlich durchtriebenen und banalen Menschen, der er ist (vielleicht gerade deshalb zum Sieg verurteilt); Hillary Clinton zu einer alten, von der Macht des Ehemannes besessenen Frau (vielleicht gerade deshalb zur Niederlage verurteilt); Papst Bergoglio, ein höflicher Mann in Weiß, der zur typisch lateinischen Rhetorik neigt; und schließlich das omnipräsente Fernsehen mit seinen billigen Fragen ("Was fühlten Sie, während das Haus einstürzte?" - "Hatten Sie Todesangst?"). In der Nacht des 24. August werden auf einen Schlag Kleinstädte wie Amatrice und Accumoli, keine Stunde entfernt von meinem Heimatort, verwüstet. Die Erde bebt, bebt wieder, bebt ein weiteres Mal, und das Telefon hört nicht mehr auf zu läuten: Aus aller Welt rufen Freunde an, wollen wissen, ob es einem gut geht. Die Antwort ist eigentlich immer dieselbe: Dem Himmel und den Architekten sei Dank, die mein Haus vor zwölf Jahren restauriert haben, das Gebäude ist erdbebensicher. Außerdem liegt das Epizentrum einigermaßen weit weg; deshalb spürt man die Erdstöße zwar - und wie man sie spürt, in gewissen Nächten wird das Wort "schlafen" zum Synonym von "tanzen" - aber sie scheinen keine schweren Schäden zu verursachen, zumindest bis jetzt.

Die Erde bäumt sich auf unter den Füßen, so als sei sie an Ekel erkrankt

Aber die gesamte Gegend befindet sich in Alarmbereitschaft. Die Kirche aus dem 17. Jahrhundert ist geschlossen, weil der Kampanile gefährdet ist, die Gemeindeverwaltung wurde in eine Turnhalle verlegt. In der Altstadt dürfen ein paar Gassen nicht mehr betreten werden, vier oder fünf Gebäude hat man für unbewohnbar erklärt. Doch nicht, was schon geschehen ist, alarmiert die Menschen, sondern das, was noch geschehen könnte.

Zur Entwarnung besteht kaum Anlass. Als in der Nacht des 24. August mehr als 300 Personen unter den Trümmern der ersten beiden Beben in der Stärke von 5,8 und 6 auf der Richterskala ums Leben kamen, rannte ich im Gefühl, der Boden unter meinen Füßen bäume sich auf, halb nackt in den Garten und dachte nur: Ich lebe noch, ich lebe noch. Vierzig Minuten lang blieb ich draußen im Dunkeln allein. Als der Strom zurückkehrte, beschloss ich, ins Haus zu gehen, um mir ein Paar Hosen zu holen, Portemonnaie, Pass, Autoschlüssel, Handy. Ich beeilte mich, denn ich spürte, dass die Erde erneut zu beben anfing, schloss die Tür und machte mich auf den Weg zur Ortschaft. In diesem Augenblick schien sich die Wirklichkeit zu verdichten. Ich war nicht mehr der mäßig mit sich selbst zufriedene Schriftsteller im reifen Alter, sondern ein hilfloses und verängstigtes Individuum auf der Suche nach Seinesgleichen. Alle hatten sich am Fuß der Altstadt versammelt: der Apotheker, der Klempner mit seiner Großfamilie aus Kindern, Schwiegertöchtern und Schwiegersöhnen, der scheue, schwer fassbare Priester; die Alten, die sich früherer Erdbeben erinnerten (oder diese erfanden).

Da standen wir nun, ziemlich besorgt, und machten uns auf die Suche nach einem iPad oder iPhone, das uns an die Welt anschließen könnte. Stattdessen kam der Barbesitzer mit einem Fernseher. Während wir die ersten Bilder der zerstörten, nicht allzu weit entfernten Ortschaften betrachteten, versorgte er uns alle gratis mit Cappuccino und Brioche. Eine Oase in der Wüste der rohesten Wirklichkeit.

Am anderen Morgen nach Hause zurückzukehren, fiel mir nicht leicht: Wieder alleine, wieder verängstigt. Aber auch dankbar, noch da zu sein. Es schien mir, als habe die Wirklichkeit kräftigere Farben und schärfere Umrisse als bisher. Von meinen beiden Katzen war nichts zu entdecken - sie tauchten erst viele Stunden später wieder auf und von nun an beobachtete ich sie aufmerksamer: Wenn sie unruhig werden, wie verrückt miauen und unbedingt rauswollen, ausgerechnet sie, die sonst nichts lieber tun, als faul auf dem Sofa zu liegen, dann bereitet man sich besser auf ein weiteres Beben vor. Doch von einem Erdstoß zum anderen hatte die Wirklichkeit langsam an Intensität verloren: In unserer Gegend begannen wir zu glauben, das Schlimmste sei überstanden. Hier gab es keine Opfer zu beklagen, keine Verletzten, nur Angst. Und die Angst vergisst man nach und nach. Doch als wir das Gefühl hatten, beim Vergessen gute Fortschritte gemacht zu sein, kam es am Morgen des 30. Oktober, einem Sonntag, zu einem weiteren, schrecklichen Beben, wesentlich stärker war als seine Vorgänger.

Dieses Mal waren Norcia, Castelluccio und andere wunderbare mittelalterliche Städtchen betroffen, die wie Kartenhäuser zusammenstürzten. Hier bei uns sah ich den gewaltigen Traktor der Nachbarn, der wie ein Huhn auf dem Dreschplatz herumhüpfte. Dieses Mal gab es keine Toten, aber nur deshalb, weil schon alle evakuiert oder auf die Flucht vorbereitet gewesen waren. Wir sind hier zu Erdbebenexperten geworden, zu Wahrsagern, die die Zeichen zu lesen wissen, anders als all jene Fernsehleute, die einem auf ihrer Suche nach dem besonders mitleiderregenden Fall, der heldenhaften Familie, dem unerschrockenen Kind ständig vor die Füße laufen.

Das Kommen und Gehen der Behörden hat in letzter Zeit stark zugenommen. Die Temperaturen hingegen sind gesunken. Donald Trump und Hillary Clinton sind zu verschwommenen Darstellern eines anderen Typs von Tragödie geworden, die etwas unrettbar Frivoles an sich hat. Die Erde fährt fort, sich unter unseren Füßen aufzubäumen, so als sei sie an Ekel erkrankt, von dem sie sich gerne durch ein wundersames Mittel unseres allwissenden Apothekers heilen lassen würde. Nur zu hoffen, dass das fade Geschwätz der Medien zumindest dabei hilft, die Aufmerksamkeit dafür wachzuhalten, was hier wirklich benötigt wird: Neue Häuser, Arbeit, Steuererleichterungen und ein wenig Frieden.

Mario Fortunato, 58, ist Schriftsteller. Er lebt in Italien und in Großbritannien. Aus dem Italienischen von Jan Koneffke.

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