Gastkommentar:Ein Königreich im Zerfall

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Den verarmten britischen Arbeitern fiel es nicht schwer, für den Brexit zu stimmen. Dabei waren sie nicht die Opfer Europas und der Freizügigkeit, wie sie fälschlicherweise dachten, sondern der Wirtschaftspolitik von Margaret Thatcher und Tony Blair.

Von Jeremy Adler

Man betrachtet den Brexit oft als politisches Phänomen, übersieht aber fast gänzlich die ökonomischen Ursachen. Um sie zu verstehen, muss man tief in die Geschichte zurückblicken, auf die Entstehung des Kapitalismus. In der Zeit um 1800 haben zwei Briten das Verhältnis des Landes zu Europa bestimmt. Der Vater des Konservatismus, Edmund Burke, glaubte nur an eine lockere Verbindung zu Europa, die nicht durch Verträge, sondern lediglich durch verwandte Religionen, Sitten und Gesetze bestimmt war. So stellt es sich die Mehrzahl britischer Politiker auch heute vor.

Noch wichtiger war die Theorie des ersten modernen Ökonomen, Adam Smith. Dieser wollte die Nationen durch Freihandel verbinden. Handel, der dem Selbstinteresse des jeweiligen Landes diene, sollte letztendlich zum universellen Frieden führen. In seinem Werk "The Wealth of Nations" (1776) spricht sich Adam Smith gegen die Intervention des Staates aus. Das gilt auch für internationale Beziehungen. Smith zufolge lassen sich diese Beziehungen am besten fördern, indem "alle Handelshindernisse zu Hause und im Ausland" abgebaut werden. Feste Bündnisse seien dabei nur hinderlich. Der Staat sollte darauf möglichst verzichten, um Frieden und Wohlstand zu fördern. Auch diese Theorie prägte das Verhältnis der Insulaner zum Kontinent entscheidend. Nur: Sie ist mit einer Organisation wie der EU absolut unvereinbar.

Als Margaret Thatcher zweihundert Jahre später gegen Europa wetterte, Großbritannien habe nicht den Staat zurückgedrängt, nur um zu sehen, wie ein europäischer Superstaat entstehe, der von Brüssel dirigiert werde, wiederholte sie im Vokabular der Moderne den Grundsatz von Smiths politischer Ökonomie: Thatcher hielt den Staat für freiheitshemmend, da er die Kreativität der Unternehmer zerstöre. Für den rechten Flügel der Konservativen, der sich an Adam Smith orientiert, laufen die Gesetze und Regeln der EU nach wie vor konträr zur Freiheit des Handels. Sie träumen von einem "Global Britain", das stark genug ist, sich in der Welt zu behaupten. Dieser Wunsch vereinte sich in der Brexitabstimmung kurioserweise mit dem Standpunkt der Arbeiter.

Die heutige britische Wirtschaftspolitik wird aber nicht nur von Adam Smiths Gedanken geleitet, sie ist auch von den Einsichten des Wirtschaftsnobelpreisträgers Friedrich August von Hayek geprägt. Die dogmatische, gefühllose Schreibart Hayeks hat etwas Bestechendes, doch neigt er in seiner Interpretation sozialer Verhältnisse zu krassen Vereinfachungen. In einem Aufsatz aus dem Jahre 1941 legt er dar, wie eine zentralisierende Planwirtschaft notwendigerweise zum Totalitarismus führe. Diese Dystopie zeichnet den Kollektivismus, in dem das Ganze wichtiger als das Individuum sei, als Gegner der freien Gesellschaft. Solche platten Gegensätze funktionieren bis heute als politische Hebel.

Thatcher nutzte sie, um den Binnenmarkt zu liberalisieren. Doch glich ihre Utopie des selbstregelnden Marktes einem Feuersturm. Der Gewinner war die Londoner City als Hort der Finanzwelt, Verlierer waren die Arbeiter. Man hat die Industrie gänzlich abgebaut, die Gewerkschaften entmachtet, die Bergarbeiter erniedrigt, ihr Gewerbe zerschlagen. So wurde Großbritanniens Arbeiterklasse um Jahrzehnte zurückgeworfen. An ihre Stelle traten nach der Osterweiterung Polen, Rumänen, Bulgaren und Tschechen. Arbeiter, die nicht nur bereit waren, härter zu arbeiten als die Briten, sondern für einen geringeren Lohn. Dies führte zu einer allgemeinen Verarmung. Nun ist man von den arbeitsamen Migranten abhängig, von denen viele unterbezahlt sind. Als die verarmten britischen Wähler sich von Osteuropäern umzingelt sahen, fiel ihnen die Entscheidung nicht schwer, für den Brexit zu stimmen. Dabei waren sie nicht die Opfer Europas, wie sie fälschlicherweise dachten, sondern der Wirtschaftspolitik von Margaret Thatcher und Tony Blair.

Die zutreffende Diagnose stammt von Hayeks Gegenspieler Karl Polanyi. Der Wirtschaftshistoriker hielt den "freien Markt" für einen Mythos, weil er in Wahrheit auf zahllosen Gesetzen beruhe: "Das Laisser-faire war geplant." Die einseitige Bevorzugung des Marktes unterminiere die Demokratie. Eine natürliche Ökonomie sei sozial eingebettet. Nach Polanyi zu urteilen, hat Hayek die Krankheit mit der Kur verwechselt. Der Faschismus entstamme "einer Marktwirtschaft, die nicht funktioniert".

Heute weisen Staaten wie Großbritannien und die USA, die den Markt vergöttern, Zeichen einer neuen Krise auf: ungezügelter Kapitalismus, obszöner Reichtum bei einer allgemeinen Verarmung, Abbau des sozialen Zusammenhalts. Die Folge ist die Zerstörung der Demokratie durch den Populismus. Es ist nur ein kleiner Schritt von Reaganomics zu Trump, von den Dogmen des Thatcherismus zu den Populisten Farage und Johnson. Dieselbe wirtschaftliche Entwicklung führte zum Plebiszit und zu seinem irrationalen Ergebnis.

Jeremy Adler, 70, ist Senior Research Fellow am King's College London.

© SZ vom 25.08.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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