Gastkommentar:Ein Albtraum kehrt zurück

In der EU ist die Vorratsdatenspeicherung wieder ein Thema. Auf dem Spiel steht der Kern unserer Verfassung.

Unlängst haben die Justizminister der EU die Europäische Kommission aufgefordert, die Möglichkeiten einer erneuten Gesetzesinitiative zur Vorratsdatenspeicherung zu prüfen. Wenn die Kommission sich darauf einlassen würde, dann wäre diese Wiederauferstehung kein freudig herbeigesehntes Ereignis, sondern die Wiederkehr eines erfolglosen Albtraums.

Schon die Bezeichnung "Vorratsdatenspeicherung" ist eine verharmlosende Täuschung der Öffentlichkeit über die Absicht, die Provider gesetzlich zu einer Mindestdauer der Speicherung aller elektronischen Kommunikationsdaten von 520 Millionen Einwohnern Europas zu verpflichten. Das ist keine polizeitaktische Kleinigkeit, sondern das Ende privaten Lebens. Jedermann wird zum gläsernen Bürger.

Wer heute auf elektronische Kommunikation verzichtet, wird zum totalen Einsiedler. Wer das nicht will, soll dafür hinnehmen, dass ohne jeden konkreten Anlass, ohne vermutete Straftat, ohne konkrete Gefahr, "auf Vorrat" jedes Telefonat, jede SMS, jeder E-Mail-Kontakt, jedes Handygespräch registriert wird, dass wer mit wem, wann, wie lange, von wo aus und wohin Kontakt hatte oder erfolglos haben wollte, jeder Bestand einer Funkzellenabfrage auf Monate oder Jahre gespeichert und den staatlichen Behörden — Polizeien, Staatsanwaltschaften, Nachrichtendiensten — unverzüglich auf Anfrage zur Verfügung gestellt wird. Schon eine maschinelle Auswertung der Kommunikationsdaten ermöglicht dem Staat und legalen oder illegalen Hackern tiefste Einblicke in das private Leben der Betroffenen.

Das Bundesverfassungsgericht sagt dazu in seinem Urteil vom 2. März 2010, dass das ein besonders schwerer Eingriff ist mit einer Streubreite, die es in unserer Rechtsordnung bisher nicht gibt. Die Speicherung beziehe sich auf Alltagshandeln, das für die Teilnahme am sozialen Leben nicht mehr verzichtbar sei. Aus den gesammelten Daten ließen sich "tiefe Einblicke in das soziale Umfeld und die individuellen Aktivitäten eines jeden Bürgers gewinnen". Man könne auch bei "automatisierter Auswertung bis in die Intimsphäre hinreichende inhaltliche Rückschlüsse über gesellschaftliche und politische Zugehörigkeiten" ziehen sowie über "persönliche Vorlieben, Neigungen und Schwächen derjenigen, deren Verbindungsdaten ausgewertet werden". Eine solche Speicherung könne die Erstellung von Persönlichkeits- und Bewegungsprofilen der Bürger ermöglichen. Bezogen auf Gruppen und Verbände erlaubten die Daten unter Umständen die Aufdeckung von Einflussstrukturen und Entscheidungsabläufen.

Und dann sagt das Verfassungsgericht: Die Vorratsdatenspeicherung zwinge den Gesetzgeber zu größter Zurückhaltung. "Dass die Freiheitswahrnehmung der Bürger nicht total erfasst und registriert werden darf, gehört zur verfassungsrechtlichen Identität der Bundesrepublik Deutschland, für deren Wahrung sich die Bundesrepublik auch in europäischen und internationalen Zusammenhängen einsetzen muss".

Die sich daraus ergebende Aufforderung, der Gesetzgeber möge doch einmal eine Gesamtübersicht über die bisher gesetzlich geregelten heimlichen und an- lasslosen Ermittlungsmöglichkeiten erstellen, blieb ohne Reaktion. Im Übrigen konnte auch die EU-Kommission trotz zahlreicher Bemühungen und Gutachten nicht belegen, dass die Einführung der Speicherung in den betreffenden Ländern die Aufklärungsrate erhöht oder die Kriminalität gesenkt habe.

Der EuGH hob die europäische Richtlinie 2014 auf. Eine neue Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung kann die EU ohne Änderung der Europäischen Verträge nicht beschließen. Gleichwohl beschloss der Bundestag 2015 erneut eine Vorratsdatenspeicherung. Zu der zweiten Verfassungsbeschwerde vom 21. Januar 2016 von uns und weiteren Beschwerdeführern hat sich die Bundesregierung erst nach über zwei Jahren inhaltlich geäußert. Inzwischen hatte aber das OVG Münster 2017 in einem anderen Verfahren vor dem Verwaltungsgericht Köln entschieden, dass auch das erneute Bundesgesetz gegen europäisches Recht verstoße und daher bis zur endgültigen Entscheidung des Kölner Gerichts nicht durchgesetzt werden kann. Daraufhin entschied die Bundesnetzagentur, dass sie das Speichergesetz bis zu dieser Entscheidung auch gegen keinen anderen Provider durchsetzen werde. Sehr schön! Die Bundesregierung schweigt zu dieser bemerkenswerten Entscheidung.

Alles hat seine Zeit. Man sollte schon wissen, ob das Gesetz gilt und angewendet wird oder nicht. Es geht nicht um juristische Turnübungen. Es geht um unsere Verfassung.

Burkhard Hirsch, FDP, war von 1975 bis 1980 Innenminister von Nordrhein-Westfalen.

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